Düsseldorfer SängerDa kommen Sie nie drauf: Auf diese Musik steht Campino

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Campino mag nicht nur Punk als Musikstil.

Düsseldorf/Berlin – In seiner Berliner Zweitwohnung ist Campino irgendwie nicht zum Frühstücken gekommen, deshalb stürzt sich der Sänger der berühmtesten Düsseldorfer Söhne sogleich auf das Tellerchen mit Amaretto-Kekschen, das sie im Hotel zum Kaffee reichen.

Der Sänger der Toten Hosen ist hier, um über „Alles ohne Strom“ zu sprechen. Die Band nahm das Unplugged-Album im Sommer in der ehrwürdigen Tonhalle in Düsseldorf auf, und man kann sagen, die Spielfreude steckt an.

Teils bieten sie unorthodoxe Versionen bekannter Hits („Hier kommt Alex“ wird in einer Country-nahen Weise gespielt), es gibt ein paar neue (aber eher unauffällige) Songs sowie vier Coverversionen, darunter „Everlong“ von den Foo Fighters und „Ohne Dich“ von Rammstein. Aber auch jenseits der neuen Musik gibt es so einiges mit Campino zu klären.

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Campino, was hat euch daran gereizt, ein Akustikalbum aufzunehmen?

Wir haben uns vorgestellt, wir sind eine Balkangruppe, die für Gelegenheiten wie Hochzeitungen, Beerdigungen und runde Geburtstage gemietet werden kann. Die Herausforderung war, auf die klassischen Waffen einer Rockband, laute Gitarren etwa, zu verzichten, dafür andere Instrumente zu spielen, musikalisch differenzierter zu sein, trotzdem Gas zu geben und einen Abend voller Energie abzuliefern.

Ihr habt viele Bläser dabei, es klingt nach Ska und Reggae.

Genau. Auch der Akkordeonspieler bringt einen Schwung rein, der mir total Spaß macht. Speziell die Polka-Sounds passen sehr gut zu unserer Energie. Kein Wunder, dass die Pogues in Punk- und Indie-Kreisen so beliebt sind.

Sind die Toten Hosen insgeheim eine Volksmusik-Truppe?

Tatsächlich ist uns Volksmusik nicht fern - aber ich meine damit nicht die verwässerte, verschmuste, schlagerartige Form, die in Deutschland üblich ist, sondern eher das, was man zum Beispiel in Irland darunter versteht. Im ursprünglichen Sinn habe ich überhaupt nichts gegen den Begriff.

Die Band existiert seit über 35 Jahren. Ist so ein Album auch der Versuch, keine Routine aufkommen zu lassen?

Im Grunde geht es uns immer um den Wunsch, einen Anlass für eine neue Tournee zu haben und den Geist einer Klassenfahrt wieder aufleben zu lassen.

Mit Mitte 50?

Dieses Bedürfnis geht nicht weg. Ich war auf einer reinen Jungenschule, und speziell am Anfang waren die Hosen eine sehr männerdurchzogene Angelegenheit. Jetzt fahren Gott sei Dank auch Frauen mit, das tut dem Umgangston sehr gut, aber das Gefühl, Matrosen auf einem Schiff zu sein, das ist immer noch da.

War es hart, auf einer Schule nur für Jungs zu sein?

Ich steckte mitten in einer Übergangsphase. Irgendwann wurde auf gemischte Klassen umgestellt, die späteren Jahrgänge hatten alle Mädels. Meine war praktisch die letzte nur mit Jungs. Rückblickend bin ich ganz froh darüber, genau in dieser Klasse gewesen zu sein, denn ich kenne niemanden, der noch so eine tiefe Verbundenheit zu seinen alten Schulkameraden hat wie wir. Wir fahren immer noch alle fünf Jahre für ein paar Tage ins Schullandheim und erzählen uns, wie es so geht. Breiti (Gitarrist Michael Breitkopf) gehört auch zu dieser Klasse.

Sagen die anderen „Mensch Campino, du wirst auch nicht älter“?

(lacht): Nee, eher im Gegenteil. Das ist immer wieder witzig, wie alle ihre Rollen einnehmen und die alten Klischees schon nach ein paar Minuten bedient werden. Andererseits sind Lebensgeschichten dabei, die überraschen. Du siehst, dass mancher eine Persönlichkeit geworden ist, die er zu Schulzeiten noch nicht war. Und andere hauen nach dem achten Bier vielleicht mal eine Phrase raus, bei der du denkst „Moment mal, wo sind wir denn hier gelandet?“.

Ist der Campino von früher denn weitgehend noch der Campino von heute?

Ich glaube, dass wir alle gut beraten sind, unsere Einstellungen, auch die grundsätzlichen, immer wieder zu überprüfen und zu justieren, flexibel zu bleiben und sagen zu können „Ich habe mich geirrt“. Insofern hoffe ich, dass ich nicht mehr derselbe Typ bin, der damals sitzengeblieben ist und dann die Schule mit einem miserablen, aber immerhin einem Abitur verlassen hat.

Hast du je radikal deinen Weg gewechselt?

Für mich sind die Entwicklungen relativ nachvollziehbar. Tatsächlich kann ich in meiner Biographie keinen großen Bruch erkennen.

Du hast vor gut einem halben Jahr die britische Staatsbürgerschaft angenommen. Warum eigentlich?

Meine Mutter war Engländerin. Ich trage also immer schon beides in mir, das Britische und das Deutsche. Für mich schließt sich mit dieser Formalität ein Kreis, der längst hätte geschlossen werden sollen. Es fühlt sich richtig an.

Man könnte auch fragen: Warum erst jetzt?

Meine Eltern wollten das lange nicht, da sie befürchteten, ich würde mich als englischer Staatsbürger vor der Bundeswehr drücken. Mein Vater war sehr konservativ und darauf bedacht, dass ich da hingehe. Habe ich tatsächlich auch gemacht, aber nur für ein paar Monate. Dann habe ich beim Bund verweigert. Anschließend kam eine Phase, in der mir die Staatsbürgerschaft wurscht war, weil ich mich in erster Linie als Europäer gesehen habe. Aber jetzt mit dem Brexit und der damit verbundenen wahnsinnigen Spaltung Großbritanniens ist es mir wichtig, mich auch zu meinen britischen Wurzeln zu bekennen.

Du bist Fan des FC Liverpool. Wie hast du den Champions-League-Sieg erlebt?

Ich war beim Finale im Stadion und bin am nächsten Tag nach Liverpool geflogen, um dort mit den Menschen zu feiern. Die Freude war gigantisch, überwältigend. Den Fans bedeutet dieser Sieg unheimlich viel, und auch für Jürgen Klopp war er sicher sehr wichtig. Mannschaft und Trainer treten jetzt ganz anders auf. Sie haben jetzt diese Siegermentalität.

Macht es einen Unterschied, ob man als Brite oder als Deutscher denkt, handelt und fühlt?

In 95 Prozent aller Fälle macht das keinen Unterschied. Aber als Halb-Engländer-halb-Deutscher war ich immer gespalten, was mein Verhältnis zu Deutschland angeht.

Heute immer noch?

Draußen in der Welt habe ich irgendwann entdeckt, was schön ist an zu Hause. Ich habe vieles von dem, was meine Heimat prägt und ausmacht, inzwischen liebgewonnen. Das Wegfahren hat mir mein eigenes Land nähergebracht.

Was hast du an Deutschland lieben gelernt?

Deutschland ist um einiges vielfältiger, als ich früher gedacht habe. Das Land hat eine wahnsinnige Bandbreite, an Natur wie an Menschen. Die Leute bei uns sind, im Verhältnis zu anderen Ländern, ziemlich selbstkritisch und zum großen Teil auch tolerant. Insgesamt haben wir eine gesunde Einstellung zu uns selbst und zu unserer Nation. Das Bewusstsein gegenüber unserer Geschichte ist immer noch in großen Teilen da und wird bis heute berücksichtigt. Manche Politiker versuchen das wegzustampfen, aber im Vergleich zu anderen Ländern sind wir ordentlich aufgestellt.

Nun haben wir im Vergleich zu anderen Ländern…

…auch für größere Katastrophen gesorgt, keine Frage. Unser Denken und Handeln ist eine Folge unserer faschistischen Vergangenheit. Engländer, aber auch Franzosen, stellen ihre Nation viel weniger in Frage als wir, was manchmal sympathisch ist, manchmal aber auch unangenehm.

Im ursprünglich 1988 veröffentlichten Song „1000 gute Gründe“, den ihr auf „Alles ohne Strom“ neu aufgenommen habt, singst du noch: „Es gibt tausend gute Gründe auf dieses Land stolz zu sein, warum fällt uns jetzt auf einmal kein einziger mehr ein?“

„1000 gute Gründe“ gehört zu den Liedern, die grundsätzlich aktuell geblieben sind. Aber wenn man ins Detail geht, hat sich in den 30 Jahren einiges geändert. Die CDU hatte damals zum Beispiel viel schärfere Konturen und bot deshalb eine ganz andere Angriffsfläche als heute. Wenn wir den Song jetzt schrieben, käme die Partei wahrscheinlich gar nicht mehr darin vor.

Du hast vor über 20 Jahren ein Interview mit Angela Merkel gemacht. Mit welchem Politiker oder welcher Politikerin würdest du dich aktuell gerne mal hinsetzen?

Das käme auf meinen Gemütszustand an. Wenn ich sehr wütend wäre und Christian Lindner hätte mal wieder einen Spruch gebracht, dann würde ich sagen „Her mit dem Mann für ein Streitgespräch“. Auch eine Diskussion mit Horst Seehofer über die Widersprüchlichkeit der CSU könnte interessant sein. Andererseits: Diese Partei bringt immer noch gut auf den Punkt, was für ein Bundesland Bayern ist - einerseits stockkonservativ, anderseits voll anarchistisch. Dieser sehr eigene Menschenschlag ist mir normalerweise jedoch zutiefst sympathisch.

Wie wird man eigentlich vom Punk zum verantwortungsvollen, fast schon staatstragenden, Künstler und Bürger?

„Staatstragend“ geht mir zu weit. Ich könnte und wollte auch niemals ein Politiker sein. Ansonsten hat das mit Lebenserfahrung zu tun. Man begegnet immer wieder klugen Menschen und wird in seinen Ansichten eines Besseren belehrt. Dadurch wird auch der eigene Horizont erweitert, ob man will oder nicht.

Woran hast du das zum Beispiel festgestellt?

Ab etwa 1977 habe ich ein Jahrzehnt lang ausschließlich Punkrock gehört und war der festen Überzeugung, ich könne mich mit niemandem unterhalten, der nicht die Liebe zu dieser Musik und zu deren Inhalten mit mir teilt. Irgendwann stellst du dann fest, dass du auch mit klassischen Musikern oder Leuten, die Pop machen, wahnsinnig gute Gespräche haben kannst. Ich bin froh, dass ich offener geworden bin. Das Schönste am Älterwerden ist für mich die Selbstsicherheit, so leben zu können, wie ich wirklich will und nicht so, wie ich denke, dass es meiner Rolle entspricht.

Bist du zuversichtlich, dass wir den Rechtspopulismus in Deutschland in den Griff bekommen?

Ich bin in dieser Frage zu besorgt, als dass ich denken würde, wir regeln das problemlos. Aber ich schöpfe Hoffnung, weil es immer mehr Menschen gibt, die gegen rechts auf die Straße gehen und sehr deutlich machen, dass sie in der Mehrheit sind.

Als vor anderthalb Jahren ausgerechnet am Holocaust-Gedenktag, die Rapper Kollegah und Farid Bang einen „Echo“ bekamen, hast du live auf der Bühne klar Stellung gegen die Entscheidung und die antisemitischen, frauenfeindlichen, homophoben und gewaltverherrlichenden Texte der beiden bezogen. Wie ging es dir danach?

Schlecht. Noch bevor der Abend stattfand, wusste ich, was passieren würde, und es fühlte sich ätzend an. Ich bin niemand, der Streit sucht und Spaß am Provozieren hat. Diese Rede war mir unangenehm, aber sie musste gehalten werden. Es geht um Werte. Dass eine solche Diskussion geführt wird, halte ich für richtig. In der Kürze der Zeit konnte ich leider gar nicht zum Ausdruck bringen, was mich da alles angekotzt hat – angefangen beim Fernsehsender Vox, der den Ernst der Situation überhaupt nicht verstanden, noch versucht hat, beide Seiten gegeneinander auszuspielen, und dabei die Frechheit besaß, sich selbst komplett rauszuhalten. Das fand ich widerlich.

War es gut, den kompletten Musikpreis einfach abzuschaffen?

Nein. Das fand ich feige. Meiner Meinung nach wäre es die richtige und saubere Lösung gewesen, den Echo fortzuführen und zu sagen „Wir haben aus der Sache gelernt“.

Würdest du alles wieder so machen?

Wahrscheinlich schon. Und es würde mir wieder nicht gut gehen.

Apropos nicht gut gehen. Du hattest im Juni 2018 einen Hörsturz. Hattest du Angst um dein Gehör, auch Angst um deine Karriere?

Ja. Natürlich.

Ist alles wieder in Ordnung?

Ja. Die Dinge haben sich reguliert, aber ob ich einen bleibenden Schaden davongetragen habe, weiß ich nicht, weil ich meine tatsächliche Hörleistung vor dem Hörsturz nicht in Zahlen kannte und sie deshalb nicht mit der jetzigen vergleichen kann. Letztendlich hat so etwas weniger nur mit den Ohren zu tun, sondern mit dem gesamten Körper. Wir alle sind mit einem Sicherungskasten ausgestattet. Wenn wir es übertreiben, dann fliegt mal hier eine Sicherung raus, und am nächsten Tag eine andere. Deshalb sind wir gut beraten, auch mal auf die Bremse zu gehen. Ich bin damals auf Volldampf gelaufen. Das war zu viel. Wenn du von selbst nicht runterkommst, dann nimmt sich dein Körper ungefragt die Pause, die er braucht.

Hast du danach etwas geändert?

Am Anfang sehr viel. Aber man wird auch laxer, und es ist unheimlich schwer, aus seinen Mustern rauszukommen. Ich bin zum Beispiel jemand, der in geselliger Runde nicht gut Wasser trinken kann. Sobald ich ein Glas Wein in der Hand habe, fange ich an, Mineralwasser regelrecht zu verabscheuen. Ich empfinde es dann schon als Beleidigung, wenn mir jemand ein Glas hinstellt. Das ist natürlich totaler Quatsch. Aber mir schmeckt es einfach nicht. Doch jetzt überliste ich mich selber. Ich trinke das Wasser warm, höchstens mal mit Ingwer oder Zitrone. Das geht viel besser.

Wie wichtig ist nach all den Jahren ein gepflegter Rausch?

Das mit dem Trinken hat irgendwann ziemlich nachgelassen. In der Jugend war das Thema Alkohol neu und spannend, über die Jahre nutzt es sich ein Stück weit ab. Die Vorgänge sind ja immer dieselben, und ich frage mich, wieso man trotzdem noch gelegentlich in so ein kleines Besäufnis reingerät (lacht).

Was ist die Antwort?

Der gemeinsam erlebte Rausch hat etwas Euphorisierendes. Er löst Barrieren, macht gesprächig und ermöglicht Situationen, die man ohne Alkohol nicht erleben würde. Aber der Rausch als solcher sollte niemals Normalität werden, sondern immer eine Ausnahme bleiben, etwas Besonderes.

Euer Kollege Thees Uhlmann hat gerade ein Buch über euch veröffentlicht. Freut einen das?

Ja. Wobei „Thees Uhlmann über Die Toten Hosen“ eher ein Buch über Thees selbst ist als eins über uns. Ich schätze Thees aber sehr, und wenn er mit uns als Basis gedanklich durch sein Leben mäandert, finde ich das eine schöne Sache.

So manch einer dürfte seine Lebensgeschichte mit den Toten Hosen verknüpfen.

Ein paar dieser Zeitgenossen gibt es sicherlich. Auch wenn es nicht jeder von denen zugeben würde.

Das Interview führte Steffen Rüth