Bomber wird 75Hoeneß: „An Gerds Schicksal nehmen viele Anteil“

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2005 konnte konnte Uli Hoeneß Gerd Müller (r.) noch persönlich zu dessen 60. Geburtstag beim Bayern-Bankett in Turin gratulieren.

München – Am 3. November feiert Gerd Müller seinen 75. Geburtstag. An seinem Ehrentag wird der „Bomber der Nation“ vom FC Bayern München in der Allianz-Arena geehrt, er selbst kann jedoch aus gesundheitlichen Gründen nicht dabei sein.

Müller erzielte in insgesamt 998 Spielen für den FC Bayern 1251 Tore – in 996 der Partien stand er in der Startelf. Müller traf in nur 62 Partien für Deutschland 68-mal – der wichtigste Treffer war das 2:1 im WM-Finale 1974 gegen die Niederlande.

Im großen Interview erinnert FCB-Ehrenpräsident Uli Hoeneß (68) an den Ausnahme-Angreifer des FC Bayern München.

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Sie kamen 1970 als 18-jähriger Fußballlehrling zum FC Bayern. Gerd Müller, Torschützenkönig der WM 1970 in Mexiko, war zu diesem Zeitpunkt bereits ein Weltstar. Wie war Ihre erste Begegnung mit dem damaligen Nationalhelden?

Die Nationalspieler kamen ja erst später ins Trainingslager in der Sporthochschule Grünwald, weil sie zuvor noch bei der WM in Mexiko im Einsatz waren. Als dann Gerd Müller, Franz Beckenbauer, Sepp Maier auftauchten, war ich sehr aufgeregt und habe mir gedacht: „Jetzt kommen die großen Stars, die du vorher im Fernsehen bei der WM gesehen hast.“ Und ich habe mich gefragt: „Sagst du jetzt Herr Müller? Herr Beckenbauer? Herr Maier?“ Gerd hat da aber gleich gesagt: „Spinnst du, hör auf, ich bin der Gerd.“

Uli Hoeneß über Gerd Müller: Sein Torinstinkt war unglaublich

Für viele war der Fußballer Gerd Müller ja ein Rätsel. Denn er war nicht besonders schnell, hatte kein Dribbling, eher wenig Ausdauer, war im Kopfball nur bei halbhohen Flanken stark, er hatte zwar einen guten, aber keinen überragenden Schuss. Und dennoch war er der weltbeste Stürmer. Wie ist das zu erklären?

Das ganz Besondere an ihm war sein unglaublicher Tor-Instinkt. Robert Lewandowski zum Beispiel ist sicher ein super Stürmer, und es kann sogar sein, dass er in dieser Saison Gerds Bundesligarekord von 40 Toren bricht. Aber er schießt keine Tore wie Gerd mit dem Schienbein, der Brust oder mit dem Knie. Gerd war das völlig wurscht, wie er den Ball reinkriegt. Der musste nur irgendwie über die Linie. Robert ballert die Dinger ins Netz, beim Gerd blieb der Ball oft nur Zentimeter hinter der Torlinie liegen.

Sein Aktionsradius konzentrierte sich dabei ganz auf den Strafraum.

Es war seine große Fähigkeit, im Strafraum mit dem Ball umzugehen. Wenn ich nicht mehr weiterwusste, dann habe ich den Ball einfach dem Gerd gegeben. Ihn konntest du immer blind anspielen, er konnte mit dem Ball immer was anfangen. Es war unheimlich schwer, ihm den Ball abzunehmen. Wenn Gerd zum Beispiel im Training wieder einmal drei, vier Tore gegen unsere Mannschaft geschossen hat, dann haben Paul Breitner und ich manchmal gesagt: „So, jetzt decken wir mal den Gerd zusammen.“ Dann sind wir in den Strafraum: Der eine lag rechts von Gerd auf dem Hosenboden, der andere links - und der Ball war im Tor.

Zum geflügelten Wort wurde damals Müllers Torhunger…

In seiner Vorstellung vom Fußball gab es nur eines: Tore. Tore waren für ihn alles. Udo Lattek hat im Training immer Alt gegen Jung gespielt, und da mussten wir immer so lange spielen, bis die Mannschaft von Gerd Müller gewonnen und er seine Tore gemacht hat. Das hat manchmal zwei Stunden gedauert. Typisch ist auch folgende Geschichte: 1972, Einweihung des Olympia-Stadions, Länderspiel Deutschland gegen UdSSR. Ich dribble den gegnerischen Torwart aus und will im Fünfmeterraum den Ball elegant ins leere Tor schießen… Auf einmal kommt jemand von hinten, grätscht mich um. Ich lieg im Tor, der Ball liegt im Tor - Torschütze Gerd Müller. Der hat mich einfach von hinten mit dem Ball ins Tor gehauen. Da war ich schon ein bisserl sauer. Und trotzdem konnte ich ihm letztlich nicht böse sein. Das war einfach sein Elexier. Er wollte unbedingt Tore schießen. Und man darf dabei eines nicht vergessen: Gerd hat nicht nur viele Tore geschossen, sondern auch viele wichtige und spielentscheidende Tore. Als Trainer hätte ich ihn nie ausgewechselt. Denn beim Gerd wusstest du: Der kann auch an einem schlechteren Tag noch in der letzten Minute treffen.

Müller und Sie sind in kurzer Zeit zu einem der besten Stürmer-Duos der deutschen Fußballgeschichte zusammengewachsen, gewannen dreimal den Landesmeister-Cup, wurden Welt- und Europameister. Sie waren über Jahre der Mann an Müllers Seite. Warum hat dieses Teamwork so gut funktioniert?

Ich hatte Fähigkeiten, die Gerd nicht hatte. Ich war schnell, konnte dribbeln. Und mir war klar, dass ich Gerd zuliefern musste. Diese Rolle habe ich immer akzeptiert. Wenn ich alle ausgespielt hatte und ich frei zum Schuss kam, dann hab ich - sofern sich die Gelegenheit ergab - den Ball trotzdem zum Gerd quer gespielt. Weil für ihn war das Tor wichtig, für mich nicht.

Müller schien ja auch von einem ausgeprägten Spieltrieb beseelt zu sein…

Ja, das stimmt. Und dieser Spieltrieb zeigte sich sogar beim Schafkopfen. Damals ist man sehr viel mit dem Bus gefahren. Da hat man dann von der Säbener Straße bis vor die Hoteltür in Frankfurt Karten gespielt. Dann gab’s Abendessen. Und danach hat man die Schafkopfrunde fortgesetzt. Gerd war da immer dabei. Und er war ein exzellenter Kartenspieler; er wusste immer, was die anderen noch auf der Hand hatten.

Wie war denn als Spieler Ihr persönliches Verhältnis zu Müller?

Wir waren gute Kameraden. Gerd war bei allen beliebt, aber er hat seine Mitspieler nicht besonders  an sich herangelassen. Private Freundschaften hatte er eher außerhalb des Fußballs. Trotzdem verband mich eine besondere Vertrautheit mit ihm. Auch weil ich immer gespürt habe, was für ein guter Mensch er ist.

Es gibt da ein Foto, das 1974 nach dem mit 4:0 gewonnenen Europacup-Finale gegen Atletico Madrid aufgenommen wurde. Sie sind da Arm in Arm in Müller zu sehen - und strahlen tiefste Seligkeit aus. Können Sie sich an diesen Moment noch erinnern?

Natürlich. Sogar ganz genau. Dieser Tag war der Höhepunkt in meiner sportlichen Karriere. Wenn ich Glücklichsein beschreiben müsste, dann mit dem Gefühl, das ich damals hatte. Es war ja das Wiederholungsspiel nach dem 1:1 im ersten Finale, wo wir grottenschlecht gespielt haben. Gerettet hatte uns der Katsche Schwarzenbeck in der 120. Minute. Der hatte als Verteidiger bei uns eigentlich Schussverbot. Und dann haut der aus 30 Meter drauf und macht das Ding. Nur: Nach dem Spiel waren wir total kaputt. Wir haben dann am Tag vor dem Wiederholungsspiel auf einem kleinen Platz hinter dem Hotel trainiert. Da waren wir völlig platt und sind rumgekrochen, wenn das einer gesehen hätte, hätte er am nächsten Tag keinen Pfifferling auf uns gesetzt. Und trotzdem haben wir dann eines der besten Spiele in der Geschichte des FC Bayern geliefert. Wobei Gerd zwei Tore machte - und ich die anderen beiden. Es gibt keinen Sieg, über den ich mich mehr gefreut habe als über dieses 4:0. Wir sind ja dem Tod von der Schippe gesprungen - und haben dann ein Spiel wie aus dem Lehrbuch geboten.  Gerd ist dabei übrigens auch ein sagenhafter Lupfer ins entfernte Eck gelungen - den hätte ich mich nie getraut.

Gerd Müller hat alle Torrekorde gebrochen, hat alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt, er war ein Superstar - und dennoch hat er sich nie wie ein solcher benommen…

Im Gegenteil. Gerd hat sich immer im Hintergrund gehalten. Er hat sich in dieser Glitzerwelt nicht wohlgefühlt. Das Einzige, was er sich als Luxus auch geleistet hat, war einer dieser riesigen Wahnsinns-Pelzmäntel, die damals viele von uns beim FC Bayern hatten. Sepp Maier hat damit angefangen, dann Franz Beckenbauer, ich hab mir einen kanadischen Wolfspelz gekauft. Da hab ich ausgeschaut wie Schwarzenegger in seiner besten Zeit. Das war völlig gaga, sowas würden wir alle  heute nie mehr machen, aber es waren halt andere Zeiten. Gerd zog schließlich mit einem kanadischen Fuchs nach. Dass wir ihn soweit gebracht hatten, da mitzumachen, das war ein Weltwunder. Der Gerd ist ja 98,5 Prozent seines Lebens in Trainingskleidung herumgelaufen.

Gerd Müller galt intern immer als ausgesprochen gutmütig. Hat er sich wirklich nie gestritten?

Nun, sagen wir es so: Gerd war ein Gerechtigkeitsfanatiker. Das zeigte sich auch bei dem Wirbel um die Prämien für die Heim-WM 1974. Der DFB hatte uns Nationalspielern nur eine geringe Summe geboten, und der Gerd hat im Trainingslager geschimpft: „Wir fahren heim!“ Es ist dann abgestimmt worden, das Ergebnis war 11:11. Das war kurz vor der WM. Die Hälfte der Mannschaft wollte abreisen. Franz Beckenbauer hat schließlich mit dem DFB eine Prämie von 70.000 Mark ausgehandelt und somit dafür gesorgt, dass wir dageblieben sind.

Das hat sich dann ja auch gelohnt. Deutschland wurde Weltmeister durch ein 2:1 im WM-Finale gegen die Niederlande. Müller schoss das Siegtor.

Unglaublich, wie er die scharfe Hereingabe angenommen und sich gedreht hat - dabei hat er den Ball gar nicht richtig getroffen. Der kullerte ja nur irgendwie ins Tor. Das war so typisch für Gerd.

Für den FC Bayern waren seine Tore ja der Schlüssel zur großen Ära der 70er Jahre.

Genau. Zwei Spieler haben aus dieser tollen Mannschaft herausgeragt:  Gerd und Franz. Die waren unbezahlbar und sportlich nicht zu ersetzen.

Was halten Sie von der These, dass der FC Bayern ohne Gerd Müllers Tore nicht der Verein wäre, der er jetzt ist.

Das ist auf jeden Fall so. Ohne Gerd wäre es zu 100 Prozent anders gekommen. Der FC Bayern weiß sehr genau, wie wichtig Gerd Müller für diesen Verein war. Wir werden ihm alle immer aus tiefstem Herzen dankbar sein.

2014 wurde festgestellt, dass Gerd Müller an Demenz leidet, seit fünf Jahren befindet er sich in einem Pflegeheim. Wie ergeht es Ihnen, wenn Sie Ihren früheren Weggefährten als Schwerkranken erleben?

Ich hatte so viele unendlich schöne Erlebnisse mit Gerd, und ich denke, die Fußball-Fans verbinden mit ihm ebenfalls die schönsten Bilder und Erinnerungen. Genau so wird er uns allen, ehemaligen Mitspielern wie den Freunden dieses wunderbaren Spiels, immer im Gedächtnis bleiben: Als der großartige Stürmer, der er war, zudem als großartiger Kamerad und als großartiger, feiner, toller Mensch: Stets bescheiden, immer für jeden ein nettes Wort, ein guter Kerl durch und durch.

War während der Coronakrise überhaupt noch Kontakt möglich?

Nein, aktuell können wir ihn nicht besuchen. Bei ihm - und das jeden Tag - ist aber seine Frau Uschi, die sich unglaublich um ihn kümmert. An seinem Schicksal nehmen viele Menschen großen Anteil. Ich werde von allen Seiten immer wieder gefragt, wie es ihm gehe. Und da merkt man auch, dass Gerd einer der wenigen Menschen ist, der keine Feinde hat.