Überangebot und erste VerliererDrei Erkenntnisse aus den ersten Länderspielen unter Hansi Flick

Manuel Neuer und Leon Goretzka winken nach dem Spiel den Fans zu.

Manuel Neuer und Leon Goretzka genießen die Ehrenrunde nach dem Spiel gegen Armenien am 5. September 2021.

Mit dem 6:0-Sieg gegen Armenien hat Deutschland in der WM-Qualifikation die Tabellenführung in der Gruppe übernommen. Die ersten beiden Länderspiele unter Hansi Flick brachten wichtige Erkenntnisse.

von Marcel Schwamborn (msw)

Stuttgart. Nach dem mitreißenden 6:0 gegen Armenien wirkte auch der sonst so gelassen daherkommende Hansi Flick (56) emotional ergriffen. „Da hat man schon ein bisschen Gänsehaut bekommen“, sagte er zur Atmosphäre im Stuttgarter Stadion am Sonntagabend (5. September 2021). 18.086 Arena-Besucher und 7,11 Millionen TV-Zuschauer sahen lange nicht erlebten Vollgas-Fußball. Deutschland hat sich beeindruckend an die Tabellenspitze in der WM-Quali geballert. Und der Bundestrainer erlebte ein spezielles Déjà-vu.

Als Flick im November 2019 als Interimstrainer nach der Trennung von Niko Kovac (49) beim FC Bayern übernahm, gelang ihm erst ein 2:0-Sieg gegen Olympiakos Piräus in der Champions League, anschließend ein fulminantes 4:0 in der Liga gegen Borussia Dortmund. Im Anschluss an diese Begegnungen verkündeten die Münchner, dass aus dem Aushilfstrainer eine Dauerlösung werde. Nun debütierte Flick als Bundestrainer ebenfalls mit einem 2:0 (gegen Liechtenstein) und einem Tor-Spektakel.

Die Start-Bilanz des Löw-Nachfolgers (zwei Spiele, zwei Siege und plus acht Tore) ist die beste aller Nationaltrainer. „Das hat Spaß gemacht, für mich in der Heimatstadt umso mehr“, sagte der zweifache Torschütze Serge Gnabry (26). „Wir nehmen die Euphorie mit.“ Am Mittwoch steht das dritte Quali-Spiel binnen einer Woche in Island (20.45 Uhr) auf dem Programm. Nach der Gala von Stuttgart bestehen wenig Zweifel, dass sich das DFB-Team auf direktem Wege das WM-Ticket für Katar sichert.

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„Bei allem Respekt vor Armenien: Es war nicht der Übergegner, auf den wir vielleicht im Achtel- oder Viertelfinale bei der WM treffen werden“, räumte Timo Werner (25) ein. „Es ist einfach wichtig, dass man liefert, wenn es zählt“, sagte Flick. Die ersten Länderspiele unter seiner Regie haben schon wichtige Erkenntnisse gebracht. EXPRESS.de nennt drei Lehren aus dem Neustart der Nationalmannschaft.

In der Offensive gibt es ein Überangebot an Qualität

Doppeltorschütze Gnabry, der über links plötzlich wie entfesselt aufspielende Leroy Sané (25), Antreiber Marco Reus (32), Knipser Werner, die Antreiber Joshua Kimmich (26) und Leon Goretzka (26). Gegen Armenien gab es keinen einzigen Ausfall im Team. Die Tatsache, dass mit Thomas Müller (31) und Kai Havertz (22) noch zwei potentielle Startelf-Kandidaten fehlten, verdeutlicht, welche Qual der Wahl Flick künftig haben wird. Hinzu kommt das Talente-Angebot auf der Bank. Mit Jamal Musiala (18) und Florian Wirtz (18) drehten zwei Juwele gleich nach ihrer Einwechslung auf, Karim Adeyemi (19) knipste sogar noch.

„Das tut ganz gut und ist für die Mannschaft ein guter Prozess, der da eingeleitet wird. Deswegen können wir mit dem Kader sehr zufrieden sein“, sagte Flick happy. Dass er mehr hochtalentierte Spieler als Positionen im Kader hat, kann der Bundestrainer gut verschmerzen. Er genießt es, aus diesem Angebot an Tempo-Spielern auszusuchen. Für Zufriedenheit ist es aber noch viel zu früh. „Das ist jetzt erstmal der Maßstab“, sagte Flick. „Wir haben einiges vor“.

Es gibt die ersten Verlierer unter Hansi Flick

Nach dem EM-Aus hatte Ilkay Gündogan (30) kurz mit dem Gedanken gespielt, seine Nationalmannschafts-Karriere zu beenden. Doch Hansi Flick zeigte ihm Perspektiven im DFB-Team auf. Diese sind allerdings nicht größer geworden. Nach 73 enttäuschenden Minuten in St. Gallen blieb für den Manchester-Profi gegen Armenien zunächst nur ein Bankplatz. Von dort musste Gündogan mit ansehen, dass das Duo Kimmich/Goretzka viel besser funktionierte. Dem England-Legionär droht mit Blick auf die WM maximal die Herausforderer-Rolle.

Während Gündogan immerhin zweimal eingesetzt wurde, sind drei Spieler gänzlich außen vor. Gegen Liechtenstein gehörten Gladbachs Florian Neuhaus (24) und der Leipziger Lukas Klostermann (25) nicht einmal zum Kader, gegen Armenien saßen sie 90 Minuten auf der Bank. Auch Dortmunds Mahmoud Dahoud (25) erlebte beide Länderspiele nur als Zuschauer. Angesichts der hohen Qualität im Kader wird es mit Einsatzzeiten für sie eng.

Löws Abwehr-Murks gehört der Vergangenheit an

Es war das Diskussionsthema bei der EM. Joachim Löw setzte auf eine Dreier-/Fünferkette und opferte so eine Offensivkraft. Hansi Flick stellte bei Bayern fast immer eine Viererkette auf. Gegen Armenien präsentierte er die asymmetrische Viererkette. Gladbachs Jonas Hofmann (29) agierte in ihr ähnlich wie beispielsweise Joao Cancelo (27) bei Manchester City. Gegen den Ball rückte er in die Kette als Rechtsverteidiger, bei Ballbesitz agierte er sehr offensiv und ließ hinten eine Dreierkette zur Restabsicherung.

Durch die variable Rolle konnte Hofmann in der Statistik Pluspunkte sammeln. Der Fohlen-Kicker hatte mit 84 Ballaktionen die fünftmeisten. Er brachte 93 Prozent seiner Pässe an seine Mitspieler und gewann 71 Prozent seiner Zweikämpfe. Hinzu kamen acht Balleroberungen - nur Süle hatte mehr (zwölf). „Ich kann mich offensiv viel einschalten“, sagte der 29-Jährige zu seinem Spiel. „Das Defensive muss kommen, die Jungs haben mich aber gut eingewiesen. Ich fühle mich in dieser Rolle wohl.“