„Also haben wir Molotow-Cocktails gebaut“Wie Ihor (25) die Russen im Schatten bekämpft

Ein junger Mann steht inmitten eines zerbombten Hauses. Er trägt einen Schutzhelm und eine Gesichtsmaske. In seiner Hand hält er eine Schaufel.

Ihor (25) hilft dabei, ein Haus in seiner Heimat wiederaufzubauen. Die Stadt Irpin nahe Kyjiw wurde von russischen Raketen besonders stark getroffen.

Seit dem 24. Februar 2022 sind Millionen Menschen vor den russischen Truppen auf der Flucht. Viele andere entscheiden sich, im Land zu bleiben, so wie Ihor (25) aus Kyjiw. Im Interview mit EXPRESS.de beschreibt Ihor, wie er Tag eins des Krieges erlebt hat – und wie sehr dieser sein Leben verändert hat.

von Martin Gätke (mg)Maria Isaak (mi)

Ihor (25) zog nach Kyjiw, als er gerade mal 16 Jahre alt war. Die Proteste der ukrainischen Bevölkerung auf dem Maidan-Platz in Kyjiw, der Ruf von Hunderttausenden nach Veränderung, nach Annäherung an die EU, inspirierten ihn damals, in die Hauptstadt zu ziehen. 

Seine Heimat befand sich damals im Umbruch. Doch es war der Morgen des 24. Februars 2022, der sie mit einem Schlag für immer verändern wird. An jenem Tag wurde er von seiner Mutter geweckt. Sie arbeitete am größten Flughafen des Landes: Flughafen Kyjiw-Boryspil. Der Flughafen wurde als eines der ersten Ziele von der russischen Großoffensive ins Visier genommen. Im Interview mit EXPRESS.de gibt Ihor zu, dass er schon vorher geahnt habe, dass ein Krieg in der Ukraine ausbrechen wird.

„Ein bedrückendes Gefühl lag schon seit einigen Tagen in der Luft“

Ihor, wieso hast du schon vor dem 24. Februar gedacht: Es herrscht bald Krieg in der Ukraine?

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Ihor: Die Amerikaner haben angefangen, ihre Leute aus dem Land zu fliegen. Die Botschaft wurde geschlossen. Das verwunderte viele Menschen, nicht nur in der Hauptstadt. Ein paar Tage vor Kriegsbeginn bekam ich ein Angebot, auszuwandern. Ich lehnte ab, ich wollte bleiben.

Und dann kam der 24. Februar.

Ihor: Genau. Morgens um 5 Uhr rief meine Mutter an. Sie arbeitete im größten Flughafen der Ukraine, nahe der Hauptstadt, und lebte wenige Kilometer von ihrem Arbeitsplatz entfernt. Meine Mutter wusste nicht, woher die lauten Geräusche kamen. Aber die Geräusche machten ihr Angst. Es war der Moment, wo ich wusste: Es ist so weit. Es ist Krieg in der Ukraine. Die Russen greifen tatsächlich an.

Wie hast du reagiert?

Ihor: Ich muss ehrlich sagen, dass ich nicht überrascht war. Ich war irgendwie darauf vorbereitet, dass der Tag kommen wird, an dem sie uns angreifen. Sie waren schon immer auf eine Art und Weise neidisch auf uns Ukrainer. Seit acht Jahren befanden wir uns im Krieg mit Russland. Sie haben uns die Krim weggenommen und kämpfen im Osten des Landes. Ich bin nicht in Panik geraten, sondern habe meine Freunde informiert. Da sind gerade einmal 20 Minuten vergangen seit den ersten Angriffen. Danach bin ich in den 24/7-Supermarkt gegangen und habe Lebensmittel eingekauft.

Was ist dann passiert?

Ihor: Ich habe meine Freunde bei mir in der Wohnung in Kyjiw zusammengetrommelt und wir verbrachten die ersten 24 Stunden, wie fast alle im Land, vor den Bildschirmen. Die Nachrichten waren unsere einzige Beschäftigung an dem Tag. Dann kamen die Sirenen – Luftalarm in Kyjiw. Wir hatten Angst, aber keine Panik. Es herrschte eine sehr konzentrierte Stimmung, wir wussten alle: In Panik geraten, das bringt uns nichts. Wir dachten, wir sind gefasst, auf das was noch kommt.

Du warst die ganze Zeit während des Krieges in Kyjiw?

Ihor: Nein, die Angst und der Terror der Russen hat auch uns eingenommen. Wir mussten erstmal in der Hauptstadt bleiben. Es wurden Ausgangssperren eingeführt. Wir haben die ganze Zeit bei mir in der Wohnung gehockt, aber wenigstens waren wir zusammen.

Dann sind wir zur territorialen Verteidigungsarmee gegangen. Wir wollten helfen, aber sie hatten keine Munition und keine Waffen mehr übrig. Also haben wir Molotow-Cocktails gebaut. Schräg diese Vorstellung, aber so war es in den ersten zehn Tagen nach Kriegsbeginn. Jeden Tag haben wir versucht zu helfen, wo wir können.

„Dann kam Butscha. Wir sahen die Massaker-Bilder“

Dann kam Butscha. Wir sahen die Massaker-Bilder. Die Stadt ist nicht mal 20 Kilometer von Kyjiw entfernt. Wir mussten fliehen, wir hatten alle Angst. Also sind wir in einen der überfüllten Züge Richtung Westen gestiegen. Wir blieben in einer Stadt in der Zentralukraine, in Lityn. Drei Monate harrten wir dort in einer Wohnung aus, bevor wir uns entschieden, zurückzukehren.

Wieder zurück nach Kyjiw?

Ihor: Genau, es ging nicht anders. Wir mussten helfen. Wir sind junge Menschen, wir sind gesund und bereit, unser Land zu verteidigen. Das haben wir dann auch getan. Wir waren keine Männer für die Front, eher die Jungs, die aus „dem Schatten“ heraus helfen können. Wir entwickelten IT-Lösungen für die Armee, erstellten Checkpoints in der ganzen Hauptstadt und in den befreiten Städten um Kyjiw. IT ist unser Ding, da sind wir den Russen, wie in vielen Sachen, weit überlegen. 

Das war eure Art, euer Land zu beschützen?

Ihor: Ja genau, und machen es heute noch. Wir entwickeln nicht nur IT-Lösungen, sondern kümmern uns auch um das Equipment unserer Verteidigung. Alle können fließend Englisch sprechen, also nutzen wir die Sprache, um in unserem internationalen Freundeskreis nach Zubehör wie zum Beispiel Nachtsichtgeräten zu fragen – das klappt, uns wird geholfen.

Es klingt so, als hättest du dich an den Krieg gewöhnt? Er hat dich wohl stark verändert, nehme ich an.

Ihor: Natürlich hat der Krieg mich verändert. Ich habe keine Auszeit vom Krieg genommen. Auch, als wir nicht in der Zentralukraine lebten, war der Krieg präsent. Er beschäftigt uns seit einem Jahr. Wir sind stressresistenter geworden, aber dadurch abgestumpft. Ich habe lange Zeit gebraucht, bis ich verstanden habe, dass es auch in Ordnung ist, traurig, müde und genervt zu sein.

Meine Heimatstadt lieg nahe der russischen und weißrussischen Grenze. Sie gehörte zu den ersten Städten, die eingenommen worden sind. Aber wenigstens dort richteten die Russen kein Massaker wie in Butscha an. Die Infrastruktur blieb verschont. Die Russen dachten, sie könnten die Stadt für strategische Zwecke nutzen. Doch die ukrainische Armee hat sie zurückerobert.

Ich habe eine Telegram-Gruppe mit Menschen aus meiner Heimatstadt gegründet. So konnte ich sie ständig informieren, wo sie Lebensmittel herbekommen und wo die Russen lauern. Wir besorgten aus der Ferne Medikamente, Kleidung und Decken. Das war sehr erfolgreich – und auch verrückt. Schließlich war ich nicht vor Ort.

Ein Jahr schon tobt der Krieg in deinem Land. Hast du Angst, dass bald eine neue Großoffensive der Russen starten wird?

Ihor: Angst habe ich nicht mehr. Ich kann mir vorstellen, dass sie versuchen, aus dem Norden des Landes die Hauptstadt zu erobern. Es wird ihnen nur nicht gelingen. Ihre Armeen sind unmotiviert. Unsere Armeen dürfen nicht verlieren. Die Moral spielt eine große Rolle.

Im ganzen Land helfen Freiwillige, unser Land aufrechtzuerhalten, darunter auch russischstämmige Ukrainerinnen und Ukrainer. Sie haben gemerkt, wer der Feind ist – nämlich Russland. 

Was ist dein Appell an die Menschen, die das lesen, Ihor?

Ihor: Lasst eure Emotionen zu. Wir sind Ukrainer, wir sind ein frohes Land. Kein Land kann unseren Humor oder unsere Lebensfreude wegnehmen, auch nicht Russland. Der Sieg ist unser, das ist gewiss. Es ist in Ordnung, emotional zu sein, aber trauert nicht zu lange. So sind wir eben nicht.

Die ganze Welt schaut auf uns und sie unterstützt uns. Russland hat diesen Krieg schon verloren, wir hingegen nicht. Wir geben nicht auf, bis wir in Frieden leben können.

Und zwar kein Frieden auf Papier, wie das Minsker Abkommen. Unser Präsident ist nicht dumm. Er weiß, dass es für uns nur eine Option gibt, nämlich All-in.