„Es kommen einfach zu viele“Reker äußert sich zur Migrationsdebatte – und ihrer OB-Kandidatur

Kölns Oberbürgermeisterin gestikuliert mit ihren Armen bei einem Interview.

Die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker, hier im November 2022 zu sehen, äußert sich im Interview zu aktuellen Themen.

Rechtsruck, Migration, Ampelregierung – aktuelle beschäftigen viele Themen die Menschen in Deutschland. Wie steht die Oberbürgermeisterin von Köln, Henriette Reker, dazu?

Wie steht Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker (67, parteilos) zur Migration-Lage? Was sagt die Stadtchefin zur angespannten und polarisierten Lage in Deutschland?

Im großen Interview mit „Focus online“ spricht sie auch über das Attentat, das auf sie verübt worden war und blickt auf ihre achtjährige Amtszeit zurück. 

Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker: Es kommen einfach zu viele

Frau Reker, einen Tag vor Ihrer Wahl zur Kölner Oberbürgermeisterin wurden Sie Opfer eines Messer-Attentats, das Sie beinahe das Leben kostete. Die Tat am 17.10.2015 liegt mehr als acht Jahre zurück. Wie schauen Sie heute darauf?

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Henriette Reker: Aus heutiger Sicht sehe ich das Attentat auf mich als Beginn einer neuen Serie von Gewalttaten, die ausländerfeindlich, rassistisch und demokratiefeindlich motiviert sind. Ich erinnere mich, dass kurz nachdem ich aus dem Koma erwacht war, der damalige Generalbundesanwalt Peter Frank bei mir war und sagte: Sie sind das erste Terror-Opfer in Deutschland nach den Anschlägen der RAF. Was er genau damit meinte, erschloss sich mir erst Jahre später.

Eine Zeitlang haben Sie regelmäßig von dem Attentat geträumt. Inwieweit beschäftigt Sie es heute noch?

Henriette Reker: Ich hatte ein halbes Jahr sogenannte Bewältigungsträume. Das ist normal, wie ich mir von meinen Ärzten habe sagen lassen. Heute bin ich angstfrei. Ich habe das Attentat mit Hilfe vieler Menschen, die mir nah und wichtig sind, verarbeiten können. Der Täter hat sein Ziel nicht erreicht. Ich habe überlebt.

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Und wenn doch einmal Erinnerungen an das Attentat und die erste Zeit danach hochkommen? Welche sind das?

Henriette Reker: Ich weiß noch, dass ich mich wie im falschen Film gefühlt habe und dachte: Das kann nicht sein, das passiert mir nicht gerade. Dann ging ich zu Boden und war damit beschäftigt, die Stichwunde am Hals zu kompressieren. In den ersten Wochen nach dem Attentat, auch in der ersten Zeit nach der Amtsübernahme als OB, habe ich schlichtweg nur funktioniert.

Der Gewalttäter stach aus fremdenfeindlichen und rechtsextremem Motiven auf Sie ein. In der Haft hat der Mann den Wunsch geäußert, sich bei Ihnen zu entschuldigen. Wie gehen Sie damit um?

Henriette Reker: Ich lehne das nicht mehr gänzlich ab. Aktuell sehe ich aber auch keinen Anlass, ihn zu treffen. Vielleicht mache ich das nach meiner Amtszeit als Kölner Oberbürgermeisterin.

Das Attentat war eine Zäsur in der Geschichte der Bundesrepublik. Zum ersten Mal im Nachkriegsdeutschland verübte ein Rechtsradikaler einen Mordanschlag auf einen Kommunalpolitiker beziehungsweise eine Kommunalpolitikerin. Muss man das heute anders einordnen als zum Zeitpunkt der Tat vor acht Jahren?

Henriette Reker: Ja. An meinem ersten Arbeitstag als OB, also einige Wochen nach der Tat, habe ich im Kölner Rathaus den Heinrich-Böll-Preis an die Literatur-Nobelpreisträgerin Herta Müller überreicht. In ihrer Rede sagte sie damals den Satz: „Erst gehen die Worte spazieren und dann die Messer“. Sie hat leider Recht damit.

Vier Jahre später kam es zum Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke...

Henriette Reker: Wir haben die Gewaltbereitschaft von Extremisten viel zu lange unterschätzt. Wir hätten schon deutlich früher sehen können, dass sich aus dem Motiv Ausländerfeindlichkeit eine Spirale des Hasses in Gang setzte. In den letzten Monaten war es umso wichtiger und erfreulicher, dass Hunderttausende gegen Fremdenhass und die Remigrationspläne der AfD auf die Straße gingen! Aber die Demos sind vor allem eine Form der Selbstvergewisserung der demokratischen Mehrheit – und noch kein Mittel, um gegen Rechtsextremismus vorzugehen.

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Wie schauen Sie auf die angespannte und polarisierte Lage in unserer Gesellschaft heute? Bei der Europawahl am 9. Juni droht ein weiterer Rechtsruck.

Henriette Reker: Wir müssen alles versuchen, dafür zu sorgen, dass viele Menschen mit demokratischer Gesinnung auch wählen gehen. In Köln ist es so, dass der 20.Jahrestag des Nagelbomben-Anschlags der rechtsterroristischen Gruppe Nationalsozialistischer Untergrund NSU, bei dem es in der Keupstraße 22 Verletzten gab, auf den Tag der Europawahl fällt. Wir werden mit mehreren Gedenkveranstaltungen einen thematischen Bogen zur Europawahl spannen.

Im Herbst könnte es bei den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg ein Dreifach-Triumph der AfD geben. Wie groß ist Ihre Sorge vor einer Regierungsbeteiligung der AfD auf Länderebene?

Henriette Reker: Sehr groß. Wenn es uns nicht gelingt, die Lücke zwischen der Erwartungshaltung der Menschen und der Leistungsfähigkeit des Staates zu schließen, wird die rechtspopulistische AfD weiter großen Zulauf haben. Die Lücke ist schon jetzt zu groß: Wenn man auf dem Bahnsteig steht und der Zug kommt nicht. Wenn man auf die Heizkostenabrechnung schaut und nicht mehr weiß, wie man die Steigerung noch bezahlen soll. Und noch etwas ist enorm wichtig: Ehrlichkeit und transparentes politisches Handeln. Die Menschen suchen Führung.


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Wünschen Sie sich auch mehr Ehrlichkeit von Kanzler Olaf Scholz? Werden die Probleme zu stark übertüncht?

Henriette Reker: Es drängt sich der Eindruck auf, dass die eigentlichen Probleme zugedeckt wurden. Zum Beispiel: Die Corona-Pandemie und ihre Auswirkungen auf Jugendliche und Kinder sind nicht ordentlich aufgearbeitet. Wir erleben jetzt, dass viele Grundschüler plötzlich Klassen wiederholen müssen oder dass die Gewaltbereitschaft unter Minderjährigen in NRW zunimmt. Wir müssen dringend an die Ursachen ran und die dafür notwendigen Debatten führen. Hier erwarte ich vom Kanzler eine Vorreiterrolle – und vom Bund, dass die notwendigen Mittel dafür zur Verfügung gestellt werden.

Wie ernst sehen Sie die Demokratie in Gefahr?

Henriette Reker: Wir erleben eine Verrohung der Debattenkultur durch extreme Kräfte. Der AfD sind keine Lösungen der Probleme zuzutrauen, sie bietet nur Populismus an. Darum muss sie überall, auf allen Ebenen, von den demokratischen Parteien politisch gestellt und überführt werden. Ich glaube aber auch fest daran, dass unsere Gesellschaft in ihrer Heterogenität, die manchmal sicherlich auch schwierig ist, eine sehr starke innere Widerstandskraft besitzt.

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Manche vergleichen die aktuelle Lage schon mit der Endphase der Weimarer Republik. Ist das in ihren Augen zulässig?

Henriette Reker: Na ja, also zulässig ist es schon. Auch Hitler ist demokratisch gewählt worden. Wenn Rechtsextreme und Populisten demokratisch gewählt werden, sind sie dennoch noch lange keine demokratische Kraft.

Ist Björn Höcke ein Nazi?

Henriette Reker: Jedenfalls teilt er ganz eindeutig rechtsextremes Gedankengut und bedient sich einer Wortwahl, die klar an den Nationalsozialismus angelehnt ist.

Viele Menschen in Deutschland sind unzufrieden, zum Teil empört über die Migrationspolitik der Ampel. Der Anteil der illegalen Immigration sei zu hoch, die Zahl der Abschiebungen zu niedrig, lautet der Vorwurf. Treibt dieses Thema die Menschen in die Arme der AfD?

Henriette Reker: Ja. Weil wir es aus verschiedenen Gründen nicht schaffen, die Menschen, die zu uns kommen, so zu integrieren, wie es notwendig wäre. Ich muss Ihnen sagen: Auch meine Auffassung zur Leistungsfähigkeit unserer Gesellschaft bei der Aufnahme und Integration von Geflüchteten hat sich verändert.

Wie meinen Sie das?

Henriette Reker: Nehmen wir nur die Geflüchteten aus der Ukraine: Wie kann es sein, dass in Dänemark 80 Prozent der Menschen schnell in den Arbeitsmarkt integriert werden konnten und nur 20 Prozent von Sozialleistungen abhängig sind, und in Deutschland ist es umgekehrt? Es ist ein Unding, dass bei uns die Hürden für die Eingliederung in den Arbeitsmarkt, beispielsweise durch vorgegebene Sprachtests, so hoch sind. Das ist ein großes Problem.

Was fehlt denn, um es so zu machen wie etwa in Dänemark?

Henriette Reker: Bürokratieabbau ist ein gerne benutztes Schlagwort in Deutschland, doch in Wahrheit gibt es immer mehr Gesetze und Vorschriften, die schnelles Handeln auf kommunaler Ebene verhindern. In Krisensituationen brauchen wir auch pragmatische Lösungen. Doch wir sind oft wie gelähmt. Das muss sich ändern.

Die Städte und Kommunen spüren den Migrationsdruck am stärksten und müssen für die Unterbringung und Integration der geflüchteten Menschen sorgen. Viele Stadtoberhäupter sagen, sie seien längst über die Belastungsgrenze hinaus. Was sagen Sie?

Henriette Reker: Wenn man die Belastungsgrenze da zieht, wo noch gelungene Integration möglich ist, sind wir weit darüber hinaus. Zurzeit haben wir in Köln etwa 11.000 Geflüchtete in städtischen Einrichtungen untergebracht, aber insgesamt halten sich derzeit circa 40.000 Geflüchtete und illegal Eingereiste in Köln auf. In den Sommermonaten rechnen wir mit steigenden Zahlen. Wir können diese Menschen davor schützen, dass sie im Kriegsgebiet leben. Wir können Sie davor bewahren, dass sie keine medizinische Versorgung haben und nicht gut ernährt werden. Sie aber wirklich zu integrieren, ist schwierig bis unmöglich. Es kommen einfach zu viele. Der Fachkräftemangel im Bildungsbereich verschärft die Lage noch: In Köln haben in der Corona-Zeit 300 Erzieherinnen und Erzieher ihren Job aufgegeben.

Wurden da von Bund und Ländern große Fehler gemacht?

Henriette Reker: Die von Olaf Scholz ausgerufene Zeitenwende kommt eben auch in den Städten und Kommunen an, das vergisst der Kanzler manchmal. Wir brauchen dringend eine weitere Aufstockung der Mittel aus Bund und Land für die Unterbringung und Betreuung von Geflüchteten. In der Migrationspolitik wurden die eklatantesten Fehler aber auf europäischer Ebene gemacht. Die Staaten der EU hätten eine gemeinsame und gerechte Flüchtlingspolitik verabreden müssen. Das ist leider nicht gelungen und muss dringend nachgeholt werden.

In den Kriminalitätsstatistiken bundesweit und in NRW wird ein deutlicher Anstieg der Ausländerkriminalität verzeichnet. Offenbar führt mehr Zuwanderung auch zu mehr Kriminalität – was muss dagegen getan werden?

Henriette Reker: Die Zahlen muss man sich sehr genau anschauen, um die richtigen und nicht vorschnelle Schlüsse zu ziehen. Wenn der Anteil an Ausländern in unserer Gesellschaft steigt, ist es ja logisch, dass auch der Anteil der Ausländer an Straftaten steigt. Aber jeder, der nach Deutschland kommt, um Schutz zu suchen und hier straffällig wird, der wird unser Land wieder verlassen müssen. Gleichzeitig müssen wir uns grundsätzlich auch stärker dem Thema Kriminalprävention widmen.

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Zurück zur Verrohung der Debattenkultur und des politischen Diskurses: Werden Sie angefeindet? Erhalten Sie Droh- und Hassmails?

Henriette Reker: Ja, und es sind unvermindert viele. Die meisten bekomme ich aber gar nicht zu Gesicht. Mein Büro kümmert sich darum, dass sie der Polizei übergeben werden. Die Beamten entscheiden dann darüber, in welchen Fällen ermittelt wird.

Wie reagieren Sie darauf?

Henriette Reker: Ich denke immer, wer mich umbringen will, der schreibt mir vorher keinen Brief. Ich mache mir deshalb um mich persönlich nicht allzu große Sorgen, empfinde die vielen Gewaltandrohungen gegen Politikerinnen und Politiker aber als bedrückend.

Raten Sie Ihren Amtskolleginnen und -kollegen und allen Politikern auf kommunaler Ebene, solche Dinge zur Anzeige zu bringen?

Henriette Reker: Ja, unbedingt.

Zum Schluss: Wie blicken Sie auf mehr als acht Jahre Amtszeit in Köln?

Henriette Reker: Ich habe immer gesagt, ich brauche zwei Amtszeiten, um Strukturen zu verändern. Am Ende dieser Zeit bin ich aber nicht da, wo ich sein wollte. Das hat auch mit dem permanenten Krisenmanagement durch Corona und die Folgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine zu tun. Einige Baustellen habe ich im wahrsten Sinne geschlossen, andere bleiben.

Wie hat diese Zeit Sie verändert?

Henriette Reker: Also, netter bin ich nicht unbedingt geworden, finde ich (lacht) . Als OB muss man Aufträge vergeben und sie auch nachhalten, das gelingt nicht nur mit guter Laune und freundlicher Ansprache. Aber ich habe natürlich auch ganz wunderbare Erlebnisse, die mich tragen. Ich sehe die Kölnerinnen und Kölner als meine Verbündeten.

Welches große Ziel setzen Sie sich noch für den Rest der zweiten Legislaturperiode?

Henriette Reker: Ich hoffe, dass wir in diesem Jahr die Entscheidung zum wichtigsten Verkehrsprojekt der Stadt, der Ost-West-Achse, treffen können. Ich gehe auch fest davon aus, dass ich die Kölner Oper und das Schauspielhaus wieder eröffne. Und ich möchte die zentralen Plätze in der Stadt weiter attraktiver machen.

Werden Sie 2025 noch einmal antreten?

Henriette Reker: Ich habe das nicht geplant. Ich gehe davon aus, dass die politischen Parteien dieser Stadt Kandidaten oder Kandidatinnen finden, die das OB-Amt überzeugend ausfüllen können. Der- oder diejenige muss wissen, worauf er oder sie sich einlässt. Man gibt sein Privatleben an der Pforte zum Rathaus ab. Man muss das aus Liebe zur Stadt wirklich wollen und authentisch sein. Sonst kann man es nicht machen.

Das Original zu diesem Text stammt von „Focus Online