Kommentar zur EM-AngstNagelsmann muss Exempel statuieren: Individualisten sind keine Mannschaft

Deutschlands Trainer Julian Nagelsmann (2.v.r.) und sein Trainerteam unterhalten sich nach dem Schlusspfiff.

Nun ist guter Rat teuer: Julian Nagelsmann spricht nach dem Spiel gegen die Türkei am Samstag (18. November 2023) mit seinem Trainerteam.

Der zarte Aufschwung unter Julian Nagelsmann als Bundestrainer ist schon wieder Geschichte. Die Nationalmannschaft verlor gegen die Türkei und zeigte bekannte Schwächen. Ein Kommentar zur Lage vor der EM.

von Marcel Schwamborn (msw)

Die Nationalmannschaft als Experimentierkasten. Nach drei Turnier-Enttäuschungen wird spätestens seit dem WM-Aus in Katar bei der DFB-Elf wild alles Mögliche probiert. Hansi Flick (58) versuchte es mit einer Dreierkette und scheiterte krachend.

Julian Nagelsmann (36) sieht sich ebenfalls berufen, noch die ganz große Innovation zu präsentieren und versuchte sich mit Kai Havertz (24) als Linksverteidiger. Auf diese Idee war zuvor bei Leverkusen, Chelsea und Arsenal noch niemand gekommen.

Deutschland ohne Stabilität: Schon 20 Gegentore in zehn Spielen

Dass er diesem dann nach der Partie „Weltklasse“ attestierte, wirkte wie ein verzweifelter Gegenangriff auf die Kritik. Ebenso überzogen waren seine komplexen Ausführungen zum Spiel im besten Laptop-Trainer-Duktus.

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20 Gegentore in zehn Spielen stehen bisher in der DFB-Jahresbilanz. Deutschland kann auch gegen Nationen, die nicht zur absoluten Weltspitze gehören, nicht mehr gewinnen. Dennoch wird immer wieder mantraartig gepredigt, dass dem Bundestrainer Weltklasse-Spieler zur Verfügung stehen und dass sich der Erfolg sicher noch einstellen werde.

Länderspiel gegen die Türkei am 18. November 2023: Die Noten der DFB-Auswahl

Die Nationalmannschaft in der Einzelkritik

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Dass trotz der individuellen Qualitäten aber weiterhin keine funktionierende Mannschaft entsteht, ist offensichtlich. Sicherlich schüren Könner wie Jamal Musiala, Leroy Sané oder Florian Wirtz EM-Hoffnungen. Der Bundestrainer kann in der Tat aus guten Einzelspielern wählen, die jedoch alle ihre eigenen Defizite mit sich bringen, weshalb keine Stabilität ins Spiel kommt.

Die Weltmeister-Ära rund um Spieler wie Lahm, Müller, Kroos, Schweinsteiger, Klose oder Hummels war von hochintelligenten Akteuren geprägt, die Räume für Mitspieler freimachten, Situationen auf dem Feld schnell assoziierten und die Konzentration über 90 Minuten hochhielten. Der Star war damals die Mannschaft.

Deutschlands Torwart Kevin Trapp (l-r), Ilkay Gündogan, Leon Goretzka und Joshua Kimmich gehen nach dem Schlusspfiff in Richtung Kabine.

Frust in Berlin: Kevin Trapp, Ilkay Gündogan, Leon Goretzka und Joshua Kimmich (v.l.) schleichen nach dem Schlusspfiff in Richtung Kabine.

Die Aufmerksamkeit bei starken Individualisten wie Sané reicht aber nie über die komplette Spieldauer, daher schleichen sich zuverlässig Patzer ein. Antonio Rüdiger ist beileibe kein Abwehrboss. Das Duo Kimmich/Gündogan hält im Zentrum zu wenig Druck vom eigenen Tor weg und zeigt im Offensivspiel zu wenig Dynamik.

Havertz zeigte schon, als er unter Flick als Mittelstürmer aufgeboten wurde, dass er nicht bereit ist, abseits seiner Lieblingsposition an die Grenzen zu gehen. So blickt Nagelsmann auf einen Kader voller Einzelkönner und Spaß-Fußballer mit großem Talent, die aber nicht als Einheit funktionieren und die Aufgaben vom Kopf her nicht annehmen.

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Es ist nun am Bundestrainer, durch eine klare Entscheidung der Mannschaft das Signal zu geben, dass es so nicht weitergehen kann. Eine Rückversetzung von Kimmich auf die Rechtsverteidiger-Position wäre eine Maßnahme, um ein Exempel zu statuieren. Wenn sich der Bayern-Star aber nicht bereit sieht, konsequent defensiv zu denken, ist für ihn kein Platz mehr im Team. Diese unbequeme Wahrheit sollte der Coach aussprechen, um auch seine Autorität zu untermauern.

Die Angst, dass die Gastgeber-Nation beim Turnier im kommenden Sommer nur eine Nebenrolle spielen wird, können auch die DFB-Verantwortlichen nicht wegdiskutieren. Dass Präsident Bernd Neuendorf weiter das Erreichen des Endspiels als Anspruch sieht, ist realitätsfern. Die EM-Angst wächst vielmehr kontinuierlich.