Mutige Türkinnen prangern Morde und Prügel anFrauen-Power gegen Männer-Gewalt

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Ihnen reicht es: Großdemo von Frauen in Istanbul gegen Frauenmorde und prügelnde Männer am 5. August 2020.

von Maternus Hilger (hil)

Istanbul – Es war ein Mord, der über die Türkei hinaus weltweit Entsetzen und einen Aufschrei auslöste. Am 21. Juli wird Pınar Gültekin tot in einem Fass im Wald im westtürkischen Mugla aufgefunden. Wenig später gesteht ihr Ex-Freund die Tat. Nach einem Streit hatte er die Studentin (27) in einem Anfall von Eifersucht bewusstlos geschlagen, erwürgt und die Leiche in einer Mülltonne zu verbrennen versucht.

Zahlreiche Menschen teilten Bilder mit dem Hashtag #challengeaccepted mit dem Namen Gültekins auf Instagram & Co. Demonstrierende Frauen in Istanbul riefen „Leben und Freiheit für Frauen“ oder „Wir überlassen unsere Rechte und unser Leben nicht Menschenhassern und bigotten Frömmlern“.

Ganze Welle schlimmer Fälle bewegt die Nation

Ein anderer, erschütternder Fall ist der Kurdin Ipek Er (18), den die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) anprangert. Nach der Vergewaltigung durch ihren Freund sei sie am 18. August 2020 an den Folgen eines Selbstmordversuches gestorben.

Alles zum Thema Recep Tayyip Erdogan

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Recep Tayyip Erdogan, der erzkonservative und autoritäre Präsident der Türkei. Die Aufnahme entstand am 21. August 2020 bei einer Pressekonferenz.

Der Täter sei zwar festgenommen, aber zunächst wieder freigelassen worden. Erst nach dem Tod der jungen Frau und Protesten in den sozialen Medien kam er erneut in Haft.

Alltägliche Gewalt gegen Frauen in der Türkei

Nach Angaben von Frauenorganisationen gab es in der Türkei in den letzten zwei Jahren 30.000 angezeigte Fälle männlicher Gewalt, die Dunkelziffer dürfte noch höher sein. 2019 haben Männer rein statistisch pro Tag mehr als eine Frau getötet. 474 waren es insgesamt, sagt Deniz Altuntas, die sich mit Tausenden Frauen in der Gruppe „Wir werden Frauenmorde stoppen“ engagiert.

„Sie sollen unsere Stimmen hören und unsere Gesichter sehen, sie sollen sehen, dass wir sauer sind. Die Frauenmorde nehmen zu, die Politik aber tut nichts dagegen.“

Türkei: Die Ursachen der Gewalt

Auch der erzkonservative Präsident Recep Tayyip Erdogan (66) stimmte in die Empörung über den Mord an Pinar Gültekin ein. „Ich verfluche alle Verbrechen gegen Frauen“, schrieb er auf Twitter. Anderseits aber erlebt die Türkei seit seiner Machtübernahme eine schleichende Islamisierung und Beschneidung der Freiheitsrechte.

Grundsätzlich trete die Regierung für eine traditionelle Frauenrolle ein, kritisiert Selime Büyükgöze von der Frauenrechtsorganisation „Mor Cati“. Man habe immer gewusst, dass es einen diskreten Hass gegen unabhängige Frauen gebe, „aber jetzt haben sie keine Angst mehr, ihn zu zeigen. Und das resultiert in Gewalt gegen Frauen.“

Die Istanbul-Konvention steht auf dem Spiel

Die Lage könnte für die Frauen noch schlimmer werden, falls die Türkei aus der sogenannten Istanbul-Konvention austreten sollte, was viele befürchten.

Das Übereinkommen, dem auch das Nicht-EU-Mitglied Türkei mit Unterschrift Erdogans in Istanbul beitrat (deshalb der Name Istanbul-Konvention) wurde vom Europarat ausgearbeitet, um Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen.

Wer stellt das Abkommen in Frage?

Losgetreten wurde die Ausstiegsdebatte von einer konservativ-religiösen Plattform. Vertreter der Regierungspartei AKP und andere rückwärts gewandte Eiferer sehen Religion, Kultur, Ehre und Anstand durch das Abkommen gefährdet.

Kritiker bleiben zum Glück laut

Möglichkeiten, Erdogan in die Schranken zu weisen, hat die EU nicht, sollte er aus der Konvention aussteigen. Geht er den Schritt, hat die Türkei – auch in ferner Zukunft – nichts in der EU zu suchen.

Hoffnungsvoll stimmt trotz allem, dass er nicht alle Kritiker mundtot machen kann. Zum Glück können sich die mutigen Frauen dank der sozialen Medien weltweit Gehör verschaffen.