„Darf man nicht unterschätzen“Ex-Merkel-Berater mit ungewöhnlicher These zu Putins Invasion

Angela Merkels einstiger Berater für Außen- und Sicherheitspolitik, Christoph Heusgen, zusammen mit der damaligen Kanzlerin 2016 im Bundeskanzleramt.

Angela Merkels einstiger Berater für Außen- und Sicherheitspolitik, Christoph Heusgen, zusammen mit der damaligen Kanzlerin 2016 im Bundeskanzleramt. 

Zwölf Jahre lang hat Christoph Heusgen an der Seite von Angela Merkel die Geschicke der deutschen Außenpolitik mitgestaltet. Nun blickt er zurück und äußert eine ungewöhnliche These zu Putin.

von Martin Gätke (mg)

In diesem Monat jährt sich der russische Überfall auf die Ukraine zum ersten Mal. Nachdem Russland die Ukraine im Februar 2022 überfallen hat, ist auch die Kanzlerschaft von Angela Merkel (CDU) und ihre Beziehung zu Russland und Präsident Wladimir Putin vermehrt in den Fokus geraten.

Hat Merkel Putin schlichtweg unterschätzt? Waren seine Pläne überhaupt absehbar? Was hätte sie verhindern können?

Russland: Viel Kritik an Merkel-Umgang mit Putin

Die einstige Kanzlerin bekam jede Menge Kritik ab für ihren Umgang mit Russland, auch aus der eigenen Partei. Der Tenor: Vor allen Dingen nach der Krim-Annexion 2014 habe sie falsch reagiert, ihren Russland-Kurs nicht angepasst. Sie habe zu viel auf Diplomatie gesetzt, zu wenig auf militärische Unterstützung der Ukraine. Sie habe auch nach 2014 noch an Nord Stream 2 festgehalten. 

Alles zum Thema Angela Merkel

Nehmen Sie hier an unserer Umfrage mit:

Angela Merkel selbst hat ihre Russland-Politik verteidigt und erklärte, ihre Entscheidungen seien der Versuch gewesen, genau diesen Krieg zu verhindern. Ihr einstiger Berater, der heutige Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz Christoph Heusgen, äußerte sich selbstkritischer. Er sagte im Dezember 2022, Nord Stream 2 sei im Nachhinein ein Fehler gewesen. Und sprach sich damals für Panzer für die Ukraine und einen Atomwaffenschirm für Europa aus. 

Merkels Ex-Berater: „2014 Aggression auf diplomatische Schiene umgeleitet“

Im Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ blickt er und auf die Historie der Beziehung zwischen Berlin und Moskau zurück, auf das Verhältnis zwischen Merkel und Putin. Er warnte davor, Merkels Politik allen auf die Versäumnisse zu reduzieren. „Die Bundeskanzlerin hat ihre Politik sehr systematisch angelegt, sie hat auf der gesamten Klaviatur der deutschen Außenpolitik gespielt und sich an den langen Linien orientiert – angefangen mit der Tradition Adenauers.“

Putins erster Einmarsch in die Ukraine 2014 sei dann gestoppt worden durch eine Intervention Merkels und des damaligen französischen Präsidenten Hollande. Man habe alle an einen Tisch gebracht und „militärische Aggression auf eine diplomatische Schiene umgeleitet“, so Heusgen. „Die Jahre danach waren wir vollauf damit beschäftigt, diese Krise zu kontrollieren und zu entschärfen.“

Merkels Ex-Berater mit ungewöhnlicher These: „Darf man nicht unterschätzen“

Dann kam es zum verheerenden 24. Februar 2022: Was hat Putin veranlasst zu diesem Schritt? Die Eindämmung der Nato? Das Verändern der politischen Landkarte zu seinen Gunsten? Christoph Heusgen äußert eine durchaus ungewöhnliche These: „Ich unterstelle auch einen Zusammenhang mit der Covid-Pandemie – das darf man nicht unterschätzen.“

Denn: „Wenn ein autoritärer Führer mehr als zwei Jahre nicht in Kontakt mit ernsthaften Gesprächspartnern aus dem Ausland kommt, erfährt er keinen Widerspruch, es fehlt der ehrliche und differenzierte Blick auf die Welt“, so erklärt Heusgen einen Grund für den Krieg. Putin habe sich eine großrussische Ideologie angeeignet. „So entstand ein Bild des Westens, der Ukraine und eine Vorstellung von Stärke der russischen Streitkräfte, die der Realität nicht entsprachen.“

Heusgen: „Da hat Putin die Freiheiten systematisch eingeschränkt“

Allerdings ist Putins Politik auch lange vor Corona härter geworden, wenn man auf die Repressionen gegen Oppositionelle blickt, gegen die Presse oder Andersdenkende. Das aber, resümiert Heusgen, sei keine geradlinige Entwicklung gewesen. „Die Einschränkungen begannen nach dem kurzen Medwedew-Intermezzo mit der Rückkehr Putins und den größten Demonstrationen seiner Amtszeit.“ Ab 2008 stand Putin vier Jahre lang im Hintergrund, Präsident Dmitri Medwedew, heute stellvertretender Leiter des Sicherheitsrates in Russland, hat das Land gesteuert.

Heusgen: „Überall in der arabischen Welt wurden damals autokratische Herrscher weggefegt.“ Da habe Putin Freiheiten systematisch eingeschränkt „und die Opposition mundtot gemacht, eingesperrt, vergiftet oder exiliert“.

Heusgen über Nord Stream 2: „Das war ein Fehler“

Für Heusgen war es trotz der Entwicklung richtig, Russland in ein System von Diplomatie einzubinden. „Wir kommen aus einer Tradition des Umgangs mit Russland. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs haben die Regierungen Kohl, Schröder und dann auch Merkel versucht, mit Russland zu einem kooperativen Verhältnis zu kommen.“

Im Rückblick erklärt Heusgen erneut, dass Nord Stream 2 ein Fehler gewesen sei. Trotz Besetzung der Krym ist die Entscheidung damals zugunsten der zweiten Pipeline gefallen. „Es hat zwar die tatsächliche Abhängigkeit nicht erhöht, weil kein Molekül Gas durchgeflossen ist. Aber das Signal war gesandt.“

Die Entscheidung sei nach Fukushima getroffen worden, in einem Augenblick, wo man keine Atomenergie mehr wollte und auf Gas setzte. „Die Wirtschaft, die SPD und Teile der Union waren sich einig, das günstige Gas aus Russland zu beziehen. Russland war auch im Kalten Krieg seit den 60er-Jahren ein verlässlicher Lieferant. So war die Logik – aber das ändert nichts daran, dass es aus meiner Sicht ein Fehler war.“