Plädoyer für eine offene GesellschaftWarum Oskar und Anna mutige Menschen an ihrer Seite brauchen

Teilnehmer einer Parade zum Christopher Street Day (CSD) ziehen mit Regenbogenfahnen durch die Stadt

Ob Kleidung, Aussehen oder Lebensstil: Nicht alle Menschen sind so offen, queere Personen (hier beim CSD in Köln 2022) als Teil der Gesellschaft zu akzeptieren. Dabei wimmelt es selbst in der Geschichte nur so von queeren Berühmtheiten. 

In der Menschheitsgeschichte wimmelt es nur so von queeren Berühmtheiten – und doch lehnen noch heute etliche Personen den Lebensstil der LGBTQI+-Community ab. Unser*e freie*r Autor*in Samu/elle Striewski über Wege zu einer offeneren Gesellschaft.

Wie oft haben wir das schon gehört:

„Nein, Oskar, trag‘ lieber kein Kleid – die anderen Jungen werden dann gemein sein!“

„Anna, du kannst doch nicht die Sophie küssen – so kriegst du aber keinen Ehemann ab!“

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Und wir kennen sie alle, die großen Personen der Menschheitsgeschichte: von Sokrates und Sappho, Alexander dem Großen und Julius Caesar über Shakespeare und Leonardo da Vinci bis hin zu Abraham Lincoln und Eleanor Roosevelt.

Samu/elle Striewski posiert auf einem Sessel für ein Foto

Samu/elle Striewski, hier auf einer undatierten Aufnahme, schreibt als freie*r Autor*in regelmäßig über Queer-Themen.

Was sie alle gemeinsam haben? Sie waren queer!

Und es wimmelt nur so von diesen Menschen – nicht nur in der Historie, sondern auch in der Gegenwart.

Nicht-queere Menschen wurden normalisiert

Aber auch wenn sie immer „normaler“ Teil der Gesellschaft waren, wurden nur die nicht-queeren Menschen normalisiert. Nur ihre Love-Stories finden wir in Büchern, Liedern und Filmen wieder, Gesetze und Sprachen wurden an ihre Lebensform angepasst.

Aber warum ist das so?

Wenn wir verstehen wollen, warum es manche ängstlich, schockiert oder wütend macht, dass es queere Menschen gibt, die von der Norm abweichen, sollten wir zunächst fragen: Was ist überhaupt eine „Norm“? Beschreibt sie das, was „normal“ ist?

Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen „normal“ und „normativ“. Normalität ist ein statistischer Begriff: in Deutschland ist es zum Beispiel statistisch normal, dass in einer Gruppe von zehn Freund*innen im Schnitt etwa ein bis zwei Personen queer sind.

Normativität hingegen geht mit einer Wertung einher: outet sich einer der Spieler des 1. FC Köln als schwul, bi oder gar trans, weicht er von der Norm ab.

Aus quantitativer Verteilung wird normative Erwartung

Wird eine Tätigkeit sehr oft wiederholt, kann ein Prozess der „Normalisierung“ einsetzen, der sie irgendwann institutionell, politisch, kulturell und sprachlich als „natürlich“ erscheinen lässt. Dadurch kann sich das statistisch „Normale“ mit einer Gut-Schlecht-Wertung aufladen und wird zur „Norm“. Aus einer quantitativen Verteilung wird so eine normative Erwartung.

Wenn sich in diesem Kontext eine Person zum Beispiel als queer outet (oder wir sie als solche lesen), dann löst das bei den meisten Menschen Irritation aus. Oder noch schlimmer: Angst und Wut.

Und das kommt nicht von ungefähr. Queere Menschen wurden aus den Geschichtsbüchern gelöscht, so manch ein Disney-Bösewicht sieht wie eine Drag Queen aus (Ursula in „Arielle, die Meerjungfrau“ oder Hades in „Herkules“) oder mimt einen effeminierten, schwulen Habitus nach (Jafar in „Aladdin“ oder Scar im „König der Löwen“).  Eine lesbische Prinzessin gibt es erst recht nicht. Noch nicht!

Wer sich outet, manövriert sich also ins soziale Aus, in die eigene Geschichts- und Sprachlosigkeit. Da klingt es vielleicht ganz logisch, wenn manche fordern: „Davor sollten wir uns und unsere Kinder, ja sogar queere Menschen selbst, doch schützen!“  Nicht aus Angst vor ihnen sondern vermeintlich aus Sorge um sie und ihr Wohlergehen.

Um was genau sorgen sich Menschen?

Doch um was genau wird sich hier gesorgt? Um den Menschen, der von der Norm abweicht? Oder den Erhalt einer Norm, die von der Lebensrealität vieler Menschen abweicht?

Wenn Oskar oder Anna mir das nächste Mal gegenübertreten, sollte ich mich fragen, ob ich auf ihrer Seite stehen und gemeinsam mit ihnen gegen die starren Normen ankämpfen will oder ob ich letztere verteidige und damit riskiere, dass Oskar und Anna an ihrem Kampf kaputt gehen.

Hier auch an unserer Umfrage teilnehmen:

Es reicht nicht, zu sagen „Jeder Jeck ist anders“ und „Macht doch was ihr wollt“. Oskar und Anna brauchen mutige Menschen an ihrer Seite, die keine Angst vor einer abstrakten Norm haben. Wenn männliche „Stärke“ heutzutage noch etwas bedeutet, dann doch am ehesten, mutig genug zu sein, um zu sagen:

„Ja, Oskar, trag ein Kleid, wenn du willst – und wenn die anderen Jungen gemein sind, begleite ich dich beim nächsten Mal … auch in Kleid!“

„Anna, küss, wen du willst – und wenn es sich richtig anfühlt, kannst du die Person vielleicht eines Tages heiraten … musst du aber auch nicht!“

Samu/elle Striewski hat in Berlin, Paris und New York City Komparatistik und Politische Philosophie mit Schwerpunkt Gender- und Queer-Studies studiert und schreibt für verschiedene Magazine als freie*r Autor*in immer wieder über Queer-Themen. Darüber hinaus setzt sich Samu/elle aktivistisch insbesondere für die Sichtbarkeit der Bi+-Community ein und performt als „La Prince*ss“ regelmäßig in Drag.