„Wir hecheln erfolglos hinterher”Karl Lauterbach: Die zweite Welle ist jetzt da

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SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach (hier Mitte Mai in Berlin)

Berlin – Die Zahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus schnellt an einigen Orten Deutschlands gerade nach oben.

Viele Menschen rechnen mit einer zweiten Infektionswelle. Strengere Regeln sollen das verhindern. Warnungen kommen aber nicht nur aus der Politik. Und für SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach ist klar: Die zweite Welle läuft bereits. Es brauche nun dringend einen Strategiewechsel.

Hohe tägliche Fallzahlen und lokale Corona-Hotspots haben Sorge unter Gesundheitsexperten und in der Wirtschaft hervorgerufen. Das Robert Koch-Institut (RKI) befürchtet wegen Nachlässigkeit bei den Verhaltensregeln eine Trendumkehr in Deutschland.

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Experten warnen vor diesem Hintergrund vor Problemen bei der Spurensuche durch die Gesundheitsämter vor Ort. Auch der Handel ermahnt Verbraucher zu mehr Disziplin.

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Nach RKI-Angaben vom Freitag meldeten die Gesundheitsämter zuletzt insgesamt 870 neue Corona-Infektionen innerhalb eines Tages. Seit Beginn der Corona-Krise haben sich somit mindestens 208 698 Menschen in Deutschland nachweislich mit dem Virus Sars-CoV-2 infiziert (Stand 31.7., 0.00 Uhr). Am Donnerstag hatte die Zahl der registrierten Neuinfektionen in Deutschland mit 902 den Höchststand für Juli markiert. Bis Mitte Juli hatte die Zahl wochenlang meist bei unter 500 gelegen.

Die Vorsitzende des Bundesverbands der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, Ute Teichert, sagte den Zeitungen der Funke Mediengruppe angesichts der Entwicklung: „Für eine zweite Pandemie-Welle sind die Gesundheitsämter viel zu knapp besetzt.“

Mit den steigenden Infektionszahlen rolle ein riesiges Problem auf uns zu. Teichert forderte eine kurzfristige Lösung. Konkret sprach sie sich für ein bundesweites Freiwilligen-Register aus - eine Art Jobbörse, die im Ernstfall Mitarbeiter vermittle, die bereits geschult seien.

SPD-Gesundheitsexperte Lauterbach schlug indes eine stärkere Konzentration beim Verfolgen von Infektionsketten vor.

Statt jedem Einzelkontakt nach zu telefonieren, sollten sich die Ämter allein auf „Superspreader“ konzentrieren, sagte er dem Magazin „Der Spiegel“. Damit gemeint sind hochansteckende Infizierte, die bei Treffen bestimmter Gruppen oft zahlreiche Teilnehmer anstecken.

Karl Lauterbach: Zweite Welle ist längst angelaufen

Für Lauterbach ist klar: Die zweite Welle des Coronavirus ist längst angelaufen. „Um die in den Griff zu kriegen, brauchen wir dringend einen Strategiewechsel bei der Pandemiebekämpfung.“ Ein erneuter Corona-Lockdown ist für Lauterbach im Falle einer Verschlimmerung der Lage keine Option. „Wir können uns keinen neuen harten Lockdown leisten. Das wäre furchtbar.“

Er gibt zu bedenken: „Wir müssen davon ausgehen, dass die Disziplin in der Bevölkerung, Abstand zu halten oder Masken zu tragen, geringer als bei der ersten Welle sein wird.“

Karl Lauterbach: Deutschland soll sich an der Strategie Japans orientieren

Deshalb sei der Strategiewechsel wichtig: Ein Festhalten an der bisherigen Coronavirus-Strategie könnte laut Lauterbach fatale Folgen haben: „Eine heftige zweite Welle.“ Man solle sich am Corona-Kampf Japans orientieren. Das sei im Kampf gegen Superspreader am erfolgreichsten gewesen.

Das hieße in der Praxis: Bei Corona-Tests müsste „systematisch abgefragt werden, ob jemand in den vergangenen Tagen bei einem potenziellen Superspreader-Event war“, erklärt Lauterbach die Strategie. Ein solches Event könnte etwa eine Feier sein, wie zuletzt in Kleve.

Ist der Test positiv, „müssen alle anderen Teilnehmer der Veranstaltung sofort in Corona-Quarantäne geschickt werden, unverzüglich, noch bevor sie selbst getestet wurden.”

Derzeit aber sei die Realität eine andere: „Wir hecheln der Pandemie erfolglos hinterher”, so der Experte. „Der Patient wird zu einem Zeitpunkt isoliert, an dem er kaum noch ansteckend ist. Da hat er die Infektion längst weitergegeben.“

HDE-Präsident über steigende Zahlen: „Es erfüllt mich mit großer Unruhe”

Der Präsident des Handelsverbandes Deutschland (HDE), Josef Sanktjohanser, forderte von der Bevölkerung mehr Disziplin. „Es erfüllt mich mit großer Unruhe, dass es viele offenbar nicht mehr so genau mit der Einhaltung der Regeln nehmen und die Zahl der Infizierten wieder steigt.“

Ein Umsatzrückgang wegen der Corona-Krise könne 50.000 Handelsstandorte in Deutschland die Existenz kosten. „Für viele Händler gäbe es bei erneuten Einschränkungen oder gar einer zweiten Phase des Lockdowns keine Chance mehr, der Insolvenz zu entgehen“, sagte er.

Mehr als drei Viertel der Deutschen rechnen mit zweiter Welle

Mit einer zweiten größeren Welle an Corona-Infektionen rechnen laut ZDF-„Politbarometer“ derzeit mehr als drei Viertel der Deutschen (77 Prozent), 20 Prozent erwarten dies nicht. Außerdem hatten nun 51 Prozent die Ansicht, dass die Menschen sich in der Corona-Krise „eher unvernünftig“ verhielten. In einer Befragung vom Juni hatten dies 33 Prozent angegeben.

Zu Krisenmaßnahmen erklärten 71 Prozent der Befragten, diese bedeuteten keine starken Einschränkungen für ihr Leben. Das Bundesverfassungsgericht wies indes einen Eilantrag gegen die Regelungen zur Kontaktnachverfolgung und die Maskenpflicht für bestimmte Situationen im Saarland ab. (Az. 1 BvR 1187/20)

Auch in NRW gibt es erneut lokale Corona-Ausbrüche

Nach Bayern und Baden-Württemberg gibt es derzeit auch an der Küste und in Nordrhein-Westfalen lokale Corona-Ausbrüche. Die Schleswig-Holsteiner Stadt Heide führte am Freitag wieder strengere Schutzauflagen ein.

Im öffentlichen Raum gilt nun wieder die Kontaktbeschränkung, dass sich maximal zwei Menschen unterschiedlicher Haushalte treffen dürfen. Auch im nahen Tourismusort Büsum an der Nordsee gelten strengere Beschränkungen, unter anderem eine Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung in zwei Fußgängerzonen.

Im Raum Hagenow in Mecklenburg-Vorpommern stieg die Infiziertenzahl nach einer Familienfeier, in deren Folge rund 160 Kontaktpersonen in Quarantäne geschickt wurden, auf 15.

NRW: in Kleve wurden nach 50 Gäste positiv auf Corona getestet

Auch im Kreis Kleve in Nordrhein-Westfalen wurden nach einer privaten Feier mehr als 50 Gäste positiv auf das Coronavirus getestet.

Bei einer Reihenuntersuchung unter Beschäftigten des städtischen Klinikums Magdeburg wurden 19 Infektionen nachgewiesen. Die Infizierten arbeiteten in verschiedenen Bereichen, von der Verwaltung bis zum medizinischen Bereich, sagte Geschäftsführer Knut Förster. Alle seien symptomfrei und hätten eine vergleichsweise geringe Viruslast. Die Infektionsketten könnten nicht nachvollzogen werden. Für den aktuellen Klinikbetrieb hätten die Fälle gegenwärtig keine Konsequenz. (dpa/mg)