„Habe mein Leben falsch gelebt“Tour-Etappensieger Kämna erklärt Karriere-Bruch

Lennard Kämna verzerrt angestrengt das Gesicht während des Eintages-Klassikers Lüttich-Bastogne-Lüttich.

Hier saß die deutsche Radsport-Hoffnung Lennard Kämna noch im Profi-Zirkus auf dem Rad: während des Eintages-Klassikers Lüttich-Bastogne-Lüttich am 4. Oktober 2020.

Lennard Kämna galt als eines der größten deutschen Radsport-Talente. 2021 verschwand er dann plötzlich von der Bildfläche. Jetzt erzählte er, wie es dazu kommen konnte und was er von sich selbst nun erwartet.

von Klemens Hempel (kmh)

Bremen/Südafrika. Als Lennard Kämna (25) am 15. September 2020 auf der 16. Etappe der Tour de France Richard Carapaz (28) abhängt, staunt ganz Radsport-Deutschland! Hat hier gerade der Klassement-Fahrer der Zukunft den Gesamtsieger beim Giro d'Italia im Vorjahr geradezu stehen gelassen? Kämna gewinnt die Etappe, schon vier Tage zuvor war er am Puy Mary dramatisch Zweiter geworden.

Am Ende der Frankreichrundfahrt holt der Juniorenweltmeister von 2014 in der Nachwuchswertung Platz fünf. Das Jahr 2020 ist für Kämna der internationale Durchbruch bei den Profis, aus dem Top-Talent wird ein ständiger Sieganwärter. Deutschland hat plötzlich neben Emanuel Buchmann (28) eine neue Hoffnung auf Gesamtsiege bei großen Rundfahrten!

Auf Sensationsjahr 2020 folgte 2021 der Absturz

Doch nach dem kometenhaften Aufstieg folgt im Mai 2021 der Schock: Kämna muss wegen körperlicher und – so stellt sich später heraus – auch mentaler Probleme mit dem Leistungssport aussetzen. Wie und wann es weitergeht: vollkommen unklar.

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Im September dann beendete Ralph Denk (47), Teamchef bei Rennstall Bora-Hansgrohe, für den Kämna fährt, das Radsportjahr 2021 des Norddeutschen: „Lennard ist zwar wieder gut ins Training eingegliedert, er wird in diesem Jahr aber keine Rennen mehr fahren.“

Der paradoxe Grund: Kämna ordnete dem Sport alles unter

Wie es so weit kommen konnte, erklärte Kämna am Samstag (17. Oktober 2021) im Interview mit dem „Weser-Kurier“: „Ich habe die Zeit, in der ich aus meinem Tunnel als Leistungssportler rausmusste, nicht gut verkraftet. Und das sind dann immer größere Ausschläge geworden – auf der einen Seite dieses total fokussierte Training, auf der anderen Seite die Zeit, in der ich nicht trainiert habe.“

Er habe es verpasst, sich auch mal „für andere Dinge zu öffnen, andere Interessen zu entwickeln. Für andere Menschen ist es diese Work-Life-Balance, die ich nicht mehr gefunden habe“. Seit Mai stand jetzt mal ganz bewusst nicht der Sport im Mittelpunkt, sondern stattdessen Familie, Freunde und Freizeit, inklusive nagelneuem Segelschein.

Selbst mit Erfolg keine „totale Befriedigung“

Die rückblickende Erkenntnis des Wahl-Bremers, der zwischendurch auch in Köln lebte: „Sobald es Schwierigkeiten gibt, habe ich Probleme, mir Befriedigung abseits des Sports zu holen. Ich habe es verpasst, mich für andere Dinge zu öffnen, andere Interessen zu entwickeln. Ich habe mein Leben falsch gelebt.“

Nicht einmal der Etappensieg bei der Tour de France im September 2020 habe ihn dauerhaft glücklich gemacht. Auch nach einem Erfolg empfinde er nie „die totale Befriedigung“.

In Zukunft wolle er einige Dinge anders machen. „Ich habe mir in den vergangenen Wochen viele Freunde und die Familie eingeladen, um mit ihnen Zeit zu verbringen. Das ist bei mir extrem wenig vorgekommen in den vergangenen Jahren. Und ich merke heute, wie sehr mir das gefehlt hat. Ich will diese Zeit in meinen Leistungssport integrieren. Weil ich hoffe, dadurch ausgeglichener und glücklicher zu werden“, erklärte der Radprofi.

Nächstes Jahr soll es für Kämna wieder hoch hinausgehen

Anfang Oktober kündigte Bora-Hansgrohe überraschend Kämnas  Comeback an – nur wenige Wochen, nachdem Teamchef Denk die Saison seines Profis noch für beendet erklärt hatte. Statt auf die Straße geht es für den 25-Jährigen allerdings erstmal aufs Mountainbike: Zwischen dem 17. und 24. Oktober tritt er in Südafrika beim Cape Epic an. Für ihn das erste Rennen seit mehr als fünf Monaten.

Im kommenden Jahr will Lennard Kämna dann wieder an frühere Erfolge anknüpfen: „Ich will versuchen, wieder auf mein altes Niveau zu kommen. Das wird ein langer Weg, da habe ich noch ordentlich Arbeit vor mir. Aber ich weiß, dass ich es schaffen kann.“

Wie es sich anfühlt, ganz oben zu stehen, weiß er ja. Bleibt zu hoffen, dass auf einen Wiederaufstieg nicht das nächste tiefe Loch folgt. Dann geht es vielleicht auch noch mal ganz hoch hinaus in den Bergen und ganz nach vorne im Klassement.