ARD-„Tatort“Neuer Fall dreht sich um schwieriges Thema – es betrifft uns alle

Friedemann Berg (Hans-Jochen Wagner) und Franziska Tobler (Eva Löbau) ermitteln im Schwarzwald-„Tatort“.

Friedemann Berg (Hans-Jochen Wagner) und Franziska Tobler (Eva Löbau) ermitteln im Schwarzwald-„Tatort“ (TV-Ausstrahlung: 6. November).

Das Ermittler-Duo Friedemann Berg und Franziska Tobler bekommt es im neuen Schwarzwald-„Tatort“ mit einem hochkomplizierten Fall zu tun – der zum Nachdenken über unsere Gesellschaft anregen soll.   

Wie verhält man sich, wenn im eigenen Haus literweise Blutspuren gefunden und der Ehemann sowie ein kleiner Sohn vermisst werden? Die Schwarzwälder „Tatort“-Ermittelnden Franziska Tobler (Eva Löbau) und Friedemann Berg (Hans-Jochen Wagner) werden zu Beginn des Falles „Die Blicke der Anderen“ zu einer schicken Neubausiedlung in der Nähe von Freiburg gerufen.

Eine Zeugin, die wusste, wo der Schlüssel liegt, hat das Haus der Vogts menschenleer, aber mit reichlich Blut getränkt vorgefunden. Der größere Sohn Lukas (Sean Douglas) hat auswärts übernachtet. Mutter Sandra (Lisa Hagmeister), Vater Gerd (Daniel Lommatzsch) und der kleine Sohn Noah (Aureus Anker) werden vermisst. Schließlich findet die Polizei Sandra Vogt alleine am Tisch einer Autobahnraststätte in der Nähe ihres Wohnortes. Die Frau wirkt nüchtern, fast stoisch. Steht sie unter Schock, ist sie die Mörderin ihres Mannes und Sohnes – oder einfach nur ein „besonderer“ Charakter?

Schwarzwald „Tatort“: Schnell gibt es einen ersten Verdacht

Fakt ist, viele würden ihr die eigentlich unfassbare Tat zutrauen: Nachbarn, Bekannte, die eigene Schwiegermutter. Sogar der fast erwachsene Sohn Lukas, der nach dem Verschwinden des Vaters und Bruders zu den Großeltern zieht und Distanz zur Mutter sucht. Fragt man Nachbarn nach der zugezogenen Sandra Vogt, erfährt man schulterzuckend: „Die Sandra isch halt die Sandra“, was in etwa heißen soll, dass hier niemand so recht schlau aus der spröde wirkenden Frau wurde, die ihr Herz weder im Gesicht noch auf der Zunge trägt.

Alles zum Thema Tatort

Während im Lauf der ersten Ermittlungsstunden und -tage vieles für ein Morddelikt spricht, versuchen Tobler und Berg, ihre Verdächtige, die aber auch „nur“ Opfer sein könnte, zu verstehen. Der „Tatort: Die Blicke der Anderen“ läuft zur ARD-Themenwoche „Wir gesucht! – Was hält uns zusammen?“, die das Programm vom 6. bis 12. November prägt. Der Schwerpunkt will zum Nachdenken anregen: darüber, was unsere Gesellschaft verbindet und an welchen Stellen das Gemeinsame schwerfällt.

Manchmal braucht es nicht viel, um Außenseiter zu sein – denkt man beim Anschauen dieses sehr gelungenen Schwarzwald-„Tatorts“: keine Migrations- oder Klassengeschichten, keine „Sünden“ in der eigenen Biografie, noch nicht mal außergewöhnliches Aussehen.

Im Gegenteil: Sandra Vogt, Anfang 40, scheint eine Vorstadtfrau wie viele andere zu sein. Mit ihrem Mann Gerd, einem Ingenieur, ist sie schon lange zusammen. Der große Sohn Lukas kam früh, nach längerer Pause folgte als Nachzügler der kleine Noah. Ein schickes, aber keineswegs protziges Eigenheim hat sich die Familie irgendwann in den letzten Jahren auf die grüne Schwarzwaldwiese gestellt.

Während Sandra ihre Arbeit als Sachbearbeiterin der Gemeinde im Rathaus verrichtet, hat Gerd viel Zeit in ein Start-up investiert. So weit, so unverdächtig. Zuletzt schien die familiäre Situation der Vogts etwas angespannt: Vater Gerd war offenbar nicht gut drauf. Depressionen könnten es gewesen sein. Auf jeden Fall herrschten bei ihm die Gefühle Frust und Ärger vor. Doch ergibt sich aus all diesen Informationen ein Ermittlungsansatz?

Was am Drehbuch Bernd Langes, der auch den großartigen ersten Schwarzwald-„Tatort: Goldbach“ schrieb, besonders zu loben ist, ist die subtile Zeichnung der Episoden-Hauptfigur, die eigentlich nichts falsch gemacht hat, außer vielleicht, dass sie zugezogen ist und spröder wirkt, als man es im eher lieblichen Südwesten Deutschlands vielleicht erwartet. Aber auch dieser Wesenszug der von Lisa Hagmeister - die überforderte Mutter in „Systemsprenger“ – herausragend und preisverdächtig dargestellten Verdächtigen wird Zuschauenden keineswegs dick aufs Brot geschmiert. Stattdessen muss – oder darf – man langsam zusammen mit den Ermittelnden beobachten und ergründen, was diese Frau bewegt und wie die vermeintliche Tatnacht samt Morgen danach abgelaufen sein könnten.

„Tatort“ zur Themenwoche ein ziemliches Meisterstück

Dass Bernd Lange, der oft mit dem Regisseur Hans-Christian Schmid gearbeitet hat, Geheimnisse und Figuren wunderbar subtil aufbauen und erzählen kann, bewies er unter anderem mit der Julia Jentsch-Miniserie „Das Verschwinden“ (2018), für deren Drehbuch er einen Deutschen Fernsehpreis gewann.

Auch der „Tatort“ zur Themenwoche ist in dieser Hinsicht ein ziemliches Meisterstück, weil man mit fröstelnder Spannung jeden Ermittlungsschritt verfolgt und durch die Augen der Kommissare einen ungewöhnlichen Menschen zu verstehen versucht. Dass diese Faszination funktioniert, liegt am großartigen Spiel des Hamburger Theaterstars Lisa Hagmeister, die schon mal als junge Frau im Frankfurter „Tatort: Der frühe Abschied“ (2008) über Plötzlichen Kindstod als Mutter mit Verlusterfahrung (der junge Vater damals: Tom Schilling) brillierte und dafür mit einem Deutschen Fernsehkrimipreis ausgezeichnet wurde.

Schwarzwälder „Tatort“ will wichtige Botschaft vermitteln

Dass „Die Blicke der Anderen“ (Regie: Franziska Schlotterer, „Totgeschwiegen“) kein moralinsaurer Themen-„Tatort“ über Vorurteile, sondern eine mitreißende, spannende „Ergründungsstory“ der Anatomie einer Familie wurde, kann man den Machern nicht hoch anrechnen. Bei diesen psychologisch sauber und lebensnah gedrechselten „Tatort“ stimmt fast alles. Es ist eine der besten unter den bisherigen acht Folgen der Schwarzwälder Ermittler, die ohnehin einen guten bis sehr guten Qualitätsschnitt aufweisen.

Was das Ganze nun mit der Themenwoche zu tun hat? Nun, vielleicht schaut man sich nach diesem Krimi die „seltsamen“ Menschen im eigenen Umfeld etwas genauer an, bevor mal ein Urteil über sie fällt. Toleranz und Akzeptanz als Klebstoff der Gesellschaft – manchmal funktionieren solche Botschaften sogar in der Primetime des öffentlich-rechtlichen Fernsehens ohne Holzhammer. (tsch)