„Putin sucht nach Sündenböcken“Russland-Experte über die Erfolge der Ukraine und was Deutschland tun kann

Das von der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Sputnik veröffentlichte Poolfoto zeigt Wladimir Putin, Präsident von Russland, der eine Sitzung mit Regierungsmitgliedern per Telefonkonferenz leitet.

Russlands Präsident Wladimir Putin führt in der Ukraine einen blutigen Krieg.

Der blutige Krieg in der Ukraine: Wann wird Wladimir Putin einlenken? Was kann Deutschland tun, um der Ukraine zu helfen? Henning Senger, Experte für Mittel- und Osteuropa der Münchner Hanns-Seidel-Stiftung, gibt bei EXPRESS.de Antworten.

von Alexander Haubrichs (ach)

Der breit angelegte Überfall Wladimir Putins (69) auf die Ukraine hat selbst viele Experten überrascht. Etwa im Institut für Europäischen und Transatlantischen Dialog der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung in München mit ihren Büros in Kyjiw und in Moskau, wie der für Mittel- und Osteuropa zuständige Leiter Henning Senger (47) im Gespräch mit EXPRESS.de erklärt.

Drei Wochen nach Ausbruch des Krieges schildert Senger im Interview die Rückführung der Mitarbeiter, erklärt die Motive Russlands, spricht über die Mission von Gerhard Schröder (77), gibt einen Ausblick auf die nächsten Wochen und erklärt, wann Wladimir Putin zum Einlenken bereit sein könnte - und welche Rolle Deutschland und der Westen dabei spielen kann und sollte.

Henning Senger, vor drei Wochen begann Wladimir Putin mit dem Angriff auf die Ukraine. Als Beobachter mit Mitarbeitern in den Hauptstädten Russlands und Ukraine - hätten Sie damit gerechnet?

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Henning Senger: Wir hatten viele Szenarien durchgespielt und dieses Szenario eigentlich als das unwahrscheinlichste eingeschätzt. Uns war allerdings klar, dass er nicht 160 000 Mann ohne Absicht an der Grenze zusammengezogen hat. Aber wir hatten es beispielsweise für wahrscheinlicher gehalten, dass er es bei der Anerkennung (und Sicherung) der besetzten Gebiete Donbass und Lugansk belassen würde. Das war nicht der Fall. Also mussten wir schnell unsere Mitarbeiter abziehen.

Per VW-Bus gelang die Flucht aus der Ukraine

Hat das geklappt?

Henning Senger: Nach der Schließung der Flughäfen in Kyjiw am 24. Februar musste unser Mitarbeiter die Ukraine auf dem Landweg in Richtung Polen verlassen. Zum Glück war er auch darauf vorbereitet und hatte seinen VW-Bus vollgetankt und saß auf gepackten Koffern. Er hat noch einen Kollegen mitgenommen, auf der Reise haben sie dann noch ein israelisches Pärchen mit einer schwangeren Frau sowie eine ukrainische Mutter mit ihren Kindern aufgegabelt. Wir haben sie dann an der polnisch-ukrainischen Grenze abgeholt. Von unseren lokalen Mitarbeitern wollten bisher nur zwei das Land verlassen. Sie sind derzeit in unserem Bildungszentrum in Kloster Banz in Oberfranken untergekommen, die anderen sind vor Ort geblieben, wir haben mit ihnen Kontakt.

Henning Senger spricht auf einer Tagung.

Henning Senger leitet die Abteilung Mittel- und Osteuropa im Institut für Europäischen und Transatlantischen Dialog der Hanns-Seidel-Stiftung.

Warum hat Putin diesen Krieg angezettelt?

Henning Senger: Es gab vermutlich in der russischen Führung – und auch in weiten Teilen der russischen Bevölkerung eine breite Überzeugung, dass der Konflikt in drei Tagen vorbei sei. Auch Putin hat vielleicht geglaubt, die ukrainische Armee würde kaum Widerstand leisten; er hat sie ja auch zum Putsch gegen die Regierung von Wolodymyr Selenskyj aufgerufen. Es ist schon einigermaßen erstaunlich, wie es zu einer solchen Fehleinschätzung kommen kann.

Ukraine zeigt sich abwehrbereit gegen die russischen Invasoren

Das Gegenteil ist offenbar der Fall: Die Ukraine scheint überraschend abwehrbereit.

Henning Senger: So überraschend ist das nicht. Zwar sind sie nicht stark genug, um die russische Armee wieder aus dem Land zu treiben. Aber die ukrainische Seite ist nach acht Jahren Krieg wirklich erfahren, sie ist gut ausgerüstet, hoch motiviert und sie hat sich auf diese Art Kriegsführung vorbereitet. Präsident Selenskyj hat erst vor acht Monaten mit Waleri Saluschni einen neuen Oberbefehlshaber ernannt. Viele sagen: das war ein echter Glücksgriff. Er hat die Ausrichtung nach Westen noch einmal intensiviert. Amerikaner und Briten haben die ukrainische Armee trainiert. Kurzum: Es scheint so, als habe Russland den Gegner unterschätzt.

Hatte Putin keine Angst vor den Sanktionen?

Henning Senger: Ich glaube, Putin hat nicht mit einer solch entschlossenen Reaktion des Westens gerechnet. In der russischen Führung scheint bei vielen die Meinung vorzuherrschen, der Westen sei dekadent und verweichlicht. In Moskau hielt man auch die Biden-Administration für schwach. Macron hatte selbst die Fähigkeiten der NATO in Zweifel gezogen. North Stream 2 war fertig. Für Putin könnte das als verlockende Gelegenheit erschienen sein.

Henning Senger: „Putins Matchzirkel steht geschlossen hinter ihm.“

Könnte es in Russland zu einer Gegenbewegung kommen?

Henning Senger: Ich glaube nicht, dass Putin abgesetzt werden könnte. Sein Machtzirkel steht noch geschlossen hinter ihm. Und viele Menschen in Russland stehen ebenfalls hinter seiner Politik. Ich durfte kürzlich den lettischen Präsidenten erleben, der fasste die russische Gefühlslage als „Phantomschmerzen einer ehemaligen Kolonialmacht“ zusammen. Viele, die in der Sowjetunion groß wurden, fühlen sich durch den Zerfall der UdSSR und dem wegbrechenden Einfluss auf die Satellitenstaaten verletzt. Das Streben nach alter Größe unterstützen sie. Allerdings gibt es natürlich gerade auch in den Städten in den jüngeren Altersgruppen eine West-Orientierung. Die merken jetzt, dass etwas fehlt. Ihre Zukunftspläne platzen. Da gibt es schon eine wachsende Unzufriedenheit.

Gerhard Schröder ist kürzlich nach Moskau gereist. Es gab einige Kritik am früheren Bundeskanzler. Kann er da etwas bewirken?

Henning Senger: Schröder hatte ja keinerlei Mandat, er kann also nicht verhandeln. Aber er hat Zugang zu Putin. Und das könnte ein Wert an sich sein. Kein westlicher Machthaber vertraut Putin und dieser glaubt auch keinem von ihnen ein Wort. Vielleicht hat Schröder da eine Chance, persönlich zu Putin durchzudringen. Mehr Möglichkeiten sehe ich in dieser Sache aber nicht.

„Wladimir Putin ist ein kalt kalkulierender Stratege“

Wann wird Putin einlenken?

Henning Senger: Am Ende des Tages ist er ein kalt kalkulierender Stratege. Wenn aus seiner Sicht die Kosten den Nutzen übersteigen, wird er seine Strategie überdenken. Zarte Ansätze dazu sind in den letzten Tagen bei den Verhandlungen zu erkennen gewesen. Je größer die Schwierigkeiten für Russland werden, desto größer wird wahrscheinlich auch die Bereitschaft der russischen Seite werden, von ihren Maximalforderungen (die einer bedingungslosen Kapitulation der Ukraine gleichkommen) abzurücken. Doch so weit sind wir noch nicht. Auch wirtschaftlich ist es noch nicht so dramatisch: Putin kann noch die Renten zahlen, das Leben in Russland geht weiter. Allerdings: Wenn er wirklich Kiyiw einnehmen will, dann wird es sehr blutig werden, fürchte ich. Da hat man gleich Bilder wie in Grosny im Kopf. Aber ich hoffe sehr, dass es so weit nicht kommen wird.

Aber es gibt in den letzten Tagen Berichte über Absetzungen und Verhaftungen von Generälen und führenden Geheimdienstlern. Könnten das nicht erste Hinweise auf eine Palastrevolution sein?

Henning Senger: Nein. Die Entlassungen und Verhaftungen scheinen mir primär ein Zeichen dafür zu sein, dass die sogenannte „militärische Spezialoperation“ - entgegen den öffentlichen russischen Verlautbarungen - nicht so läuft wie geplant. Und eventuell ist der Kreml bereits auf der Suche nach Sündenböcken.

Öl- und Gasembargo gegen Russland darf kein Tabu sein

Was kann der Westen noch tun?

Henning Senger: Wir werden die Ukraine weiterhin massiv unterstützen müssen, sowohl finanziell als auch mit militärischer Ausrüstung. An einer Ausweitung des Konflikts in Richtung NATO haben aber weder der Westen noch Putin ein Interesse. Und wir haben noch die Möglichkeit, die Sanktionen weiter zu verschärfen. Auch ein Öl- und Gasembargo sollte kein Tabu sein. Viele Hardliner in Russland scheinen nicht zu glauben, dass der Westen dazu in der Lage wäre. Aber es sollte zumindest eine Option sein. Und wirklich wichtig bleibt die Beibehaltung der Einigkeit des Westens.

Wolodymyr Selenskyj hat in seiner Rede vor dem Bundestag über die fehlende deutsche Entschlossenheit geklagt.

Henning Senger: Aus seiner Sicht ist das verständlich. Aber die NATO kann nicht Kriegspartei in diesem Konflikt werden. Das Risiko einer Eskalation ist einfach zu groß. Deshalb ist etwa die Einrichtung einer Flugverbotszone durch die NATO illusorisch. Wenn es ein Friedensabkommen geben sollte, wird es dann doch eher die Sache der Vereinten Nationen sein, sich hier zu engagieren.