Otto Kernberg (97), Koryphäe der Psychoanalyse, zu Besuch in Köln. Er ist insbesondere Experte für Narzissmus.
Popstar der PsychologieOtto Kernberg (97) über bösartige Narzissten, Trump und Putin

Copyright: Alexander Schwaiger
Otto Kernberg auf dem Podium. Er sagt zu Beginn, dass sich für ihn eine Stunde bei einem Vortrag anfühle wie fünf Minuten. Beim Zuhören seien es eher drei Stunden. Und er warnt die Zuhörer scherzhaft: „Es könnte also heute ermüdend werden – für sie, nicht für mich!“
Dieser Mann scheint alle Zeit der Welt zu haben. Dabei ist er 97 Jahre alt. Otto Kernberg, US-amerikanischer Psychiater, eine Koryphäe auf dem Gebiet der Psychoanalyse. DER Experte für schwere Persönlichkeitsstörungen. Arbeitet immer noch 50 Stunden die Woche (!). Und fliegt mal eben über den „großen Teich“, um in Köln ein zweitägiges Seminar und einen Vortrag beim „Alexianer Therapieforum“ in Köln zu halten. Thema: „Problematische Persönlichkeiten als Herrscher der Welt“. Hat er im Umgang mit den Trumps und Putins dieser Welt ein paar gute Tipps? Und vielleicht auch, wie man mit 97 denn bitte noch geistig so fit bleibt?
Dieser Mann ist ein Phänomen. Als er den Saal des Dominik-Brock-Hauses in Porz betritt, hat er schon anderthalb Tage Seminar mit Psychiaterinnen und Psychiatern hinter sich. Stundenlang hat Otto Friedmann Kernberg gesprochen, jetzt geht es in die nächste Runde. Es scheint ihm nichts auszumachen. Psychiater und Buchautor Manfred Lütz (71) hat ihn eingeladen nach Köln. Die beiden sind befreundet. Er weiß, Otto Kernberg kann noch sehr ausdauernd reden. „Ich habe ihn im März in seinem Haus in Maine besucht. Ich war müde vom Flug, er war gar nicht müde. Wir haben noch bis tief in die Nacht Gespräche geführt. Es wurde ein langer Abend.“
Lang wird auch dieser Nachmittag. Auf seinen feuerroten Rollator gestützt kommt er zum Vortrag, das akademische Viertelstündchen später, versteht sich. Das Laufen bereitet ein bisschen Probleme. Und ja, Fragen muss man ihm auf Zetteln zustecken, er hört seit einigen Wochen kaum noch etwas. „Aber ich bin dankbar für die technischen Möglichkeiten, die es heute gibt“, sagt er in überraschend akzentfreiem und flüssigem Deutsch. „Mit dem Rest kann und muss man sich arrangieren.“
Seit den 60ern lebt er in den USA. Geboren wurde er 1928 in Wien, noch gerade rechtzeitig gelang seinen jüdischen Eltern 1939 mit ihm die Flucht – nach Chile. Bis auf einen Cousin wurden alle anderen Verwandten von den Nazis ermordet. Kernberg weiß, was es heißt, wenn die Demokratie zusammenbricht, wenn in Diktaturen erst Recht und Freiheit sterben – und dann Menschen. Er weiß, wer dazu neigt, die Weichen Richtung Diktatur zu stellen.

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In der Pause: Otto Kernberg und EXPRESS-Redakteurin Marie Schäfers.
Otto Kernberg spricht über den bösartigen Narzissmus. „Dessen Kennzeichen sind das Gefühl besonderer Großartigkeit, die Verachtung von Anderen und intensiver Neid. Dazu antisoziales Verhalten, das sich ausbeutend und aggressiv zeigt. Man sieht überall Feinde, wo gar keine sind.“ Da fühlt man sich ganz unweigerlich an US-Präsident Donald Trump und Russlands Präsidenten Wladimir Putin erinnert.
„Die Darstellung des Gefühls der Großartigkeit ist effektiv, sie hilft, an die Schlüsselpositionen in der Welt zu kommen, sie hilft im Kampf um die Spitze“, sagt Kernberg. „Bösartige Narzissten wirken verführerisch. In der Politik lernen sie schnell, was ihre Anhänger interessiert. Und diese Anhänger denken: ‚Aha, da ist jemand, der uns versteht‘! Kernberg redet flüssig, sein Wasserglas rührt er nicht an, auch nicht die Schokolade, die auf dem Tisch steht. In der kurzen Pause wird er nur einmal am Wasser nippen, dann fleißig Bücher signieren für seine vielen Fans. Er ist wie ein 97-jähriger Popstar der Psychologie. Die Fans, elektrisiert.
Bösartige Narzissten: Per Ferndiagnose erkennt man sie nicht
Wenn es um Persönlichkeitsstörungen geht, ist er in seinem Element, redet sich fast in Rage. „Hitler war ganz klar eine Persönlichkeit mit bösartigem Narzissmus, auch Stalin war es.“ Und Trump und Putin? „Wir können keine lebenden Personen diagnostizieren, wenn wir die Person nicht selber in der Praxis sehen, deshalb kann ich Trump oder Putin nicht diagnostizieren. Beide könnten im privaten Umgang vielleicht durchaus liebevoll sein“, sagt der Psychoanalytiker. „Aber: Sie zeigen – öffentlich jedenfalls – ein aggressives, antisoziales Verhalten gegenüber ihren vermeintlichen Feinden.“
In ihren Motiven unterscheiden sie sich. „Trump will so viel Geld machen wie möglich, Putin will Russland territorial in Europa ausbreiten, sie sind beide bestimmt von Macht, nicht von Vernunft.“ Trump könne man, bei allen erheblichen Unterschieden, mit Hitler jedenfalls einem Punkt vergleichen: „Was sein übertriebenes Gefühl der eigenen Wichtigkeit, der eigenen Großartigkeit angeht. Bei Trump ist aber auch seine Dummheit ein Problem.“ Otto Kernberg blickt auf seine Armbanduhr. Die Pause rückt näher. Er fragt, wie viel Zeit ihm noch für den Vortrag bleibe. Noch fünf Minuten. Er macht schnell ein „Noch 15 Minuten?“ draus – und redet einfach weiter. Und das Publikum hängt an seinen Lippen. Wer will einen 97-jährigen Enthusiasten auch unterbrechen?
„Es sieht in den USA nicht gut aus“, sagt Kernberg nachdenklich. „Trump wird die Macht nicht freiwillig abgeben. Er ist der Präsident der Republikaner, so hat er sich selbst bezeichnet. Nicht der Präsident aller Amerikaner. Er will eine Einheitspartei, das führt zu einer Diktatur, wenn man es nicht stoppt. Und eine Diktatur geht im Allgemeinen immer schlecht aus.“
Was können wir also gegen problematische Persönlichkeiten tun, die die Weltgeschicke lenken? „Uns muss klar werden, dass die liberale, demokratische Gesellschaft, die wir heute haben, nicht automatisch für immer so bleibt. Wir haben noch nicht gelernt, dass eine freiheitliche Gesellschaftsordnung keineswegs selbstverständlich ist, sie muss immer neu erkämpft, muss aktiv beschützt werden.“
Wie kann man einen wie Trump konkret stoppen? „Durch ein engagiertes Zusammenkommen der liberalen Kräfte in den USA, durch ein tapferes Aufstehen. Die Opposition in den Vereinigten Staaten muss kraftvoll handeln und aggressiv ihre Ideale verteidigen. Dazu zeigt sich die Demokratische Partei bislang unfähig.“
Sind wir eigentlich alle bekloppt, Herr Kernberg?
Haben wir heute mehr Narzissten als früher? Es könnte einem ja so vorkommen, wird Kernberg gefragt. „Normaler Narzissmus wird in der heutigen Gesellschaftsstruktur durchaus verstärkt“, sagt der Experte. „Zumindest unser kindlicher Narzissmus durch das Streben nach Besitz und so vielen unnötigen Dingen. Wir wollen unser Leben immer bequemer, erfüllter machen, wollen mehr genießen. Ob sich Narzissmus in seiner pathologischen Form dadurch weiterverbreitet? Das wissen wir nicht. Wenn die Gesellschaft normal funktioniert, kontrolliert sie die Auswüchse des Narzissmus.“
Wenn die gesellschaftlichen Grundlagen aber ins Wanken gerieten, so wie derzeit? Dann sehe es zumindest so aus, als hätten wir mehr Persönlichkeitsstörungen. Also sind wir alle – sorry – ein bisschen bekloppt, Herr Kernberg? Er lacht: „Nein, die meisten Menschen haben keine schwerwiegenden Persönlichkeitsstörungen, nur kleine Probleme. Wir haben alle unsere Schrullen, unsere Partner haben Schrullen, die müssen wir verstehen, tolerieren und manchmal auch einfach drüber lachen.“ Aber er ergänzt: „Wir haben eine Pflicht, unserer Gesellschaft zu helfen, so normal wie möglich zu bleiben.“
Wie geht man denn mit Narzissten in der Politik um, wenn sie nun mal da sind (so wie Trump)? „Kuschen sollte man nicht. Narzisstische Persönlichkeiten haben große Probleme, Kritik anzunehmen, selbst gute Ratschläge von Freunden. Man muss Menschen wie Trump im übertragenen Sinne vor den Kopf stoßen, damit sie bei kritischen Anmerkungen überhaupt zuhören.“

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Standing Ovations schon beim Einzug in den Saal. Viele wollen Selfies mit Otto Kernberg, es gibt Psychiater, die zu all seinen Vorträgen reisen. Die auch in die USA, auch bei allen neun bisherigen Auftritten in Deutschland dabei waren.
Narzissten gibt es nicht nur in der Politik, wir begegnen ihnen auch im Privaten, im Beruf, gerne auch in Chefsesseln. Warum eigentlich so oft und auch in krankhafter Ausprägung? Bei unserer Frage wird Kernberg fast wütend: „Wir wissen doch heute, was eine gute Führung ausmacht, wenden dieses Wissen aber nicht an. Was dumm ist!“, echauffiert er sich. „Eine gute Führung muss intelligent sein, bereit sein, richtige Entschlüsse mit langfristiger Perspektive zu treffen. Sie muss ehrlich sein und nicht nur die unterstützen, die ihr selbst nahe ist. Sie muss moralisch sein, aber nicht naiv. Sie sollte nicht von allen geliebt werden wollen, braucht eine gesunde Skepsis, aber natürlich keine paranoide Einstellung. Und ja, ein bisschen Narzissmus gehört auch dazu.“ Im Sinne von: Ich weiß schon, was ich tue.
„Es ist nicht schwer, eine gute Führungsperson zu bekommen. Und wir verdienen solche Persönlichkeiten!“ Sollten wir vielleicht öfter einfordern. So kämpferisch wie Otto Kernberg, der immer noch nicht müde zu sein scheint. Aber er muss am nächsten Tag wieder in die USA reisen. Ob er es nochmal nach Köln schafft? Weiß er nicht. Mit seiner Arbeit will er weitermachen. „Solange mir das Freude macht und meine Frau mich begleiten kann, meine Frau ist ein fundamentaler Aspekt.“ Es ist eine versteckte Liebeserklärung an „Kay“, ebenfalls Psychologin. Sie spreche kein Deutsch, deshalb habe sie seine Anmerkung nicht verstanden, schmunzelt Kernberg vor sich hin.
Otto Kernberg wird wieder ernst. „Ich bin bereit, zu sterben, und wenn das morgen passiert, dann ist das in Ordnung. Ich habe ein gutes Leben gehabt – und habe immer alles gegeben.“ Ja, auch mit 97 gibt er noch alles. Wie steht man in dem Alter eigentlich einen langen Transatlantikflug durch? „Es kann eine sehr angenehme Angelegenheit sein, im Flugzeug mal ein paar Stunden Zeit zu haben“, sagt der vielbeschäftigte Senior. „Man schläft, man liest was oder schaut einen Film. Wir haben heute so eine Angst vor Zeitverlust. Aber wann hat man schon mal Zeit, einfach nur für sich zu sein? Vielleicht auch mal Langeweile zu haben? Langeweile auszuhalten – das ist übrigens gut gegen Narzissmus.“

