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AnalyseLäuft bei uns was falsch mit Straftätern?

Polizeibeamte, deren Gesichter unkenntlich gemacht worden sind, führen einen Tatverdächtigen ab. Der Mann hat die Kapuze seines gelben Anoraks über das Gesicht gezogen.

Das undatierte Foto zeigt einen Tatverdächtigen, der von der Polizei festgenommen wird.

Mitunter werden von Gerichten verhängte Strafen von der Öffentlichkeit als zu milde angesehen. Stimmt das? Was Experten dazu sagen.

Messerangriff am Hamburger Hauptbahnhof: 19 Verletzte. Die Tatverdächtige: polizeibekannt. +++ Zweijähriger und 41-Jähriger bei Messerattacke in Aschaffenburg getötet – der Tatverdächtige: polizeibekannt. +++ Feuerwehrmann vergewaltigt 31-Jährige: Elf Monate auf Bewährung, damit er seinen Beamtenstatus nicht verliert.

Es sind drei beispielhafte Fälle, die Diskussionen ausgelöst haben. Zum einen darüber, wie Bürgerinnen und Bürger vor Verbrechen besser geschützt werden können. Zum anderen stellt sich vielen Menschen die Frage, ob insbesondere mit Straftätern, seien sie nun psychisch krank oder nicht, derzeit zu milde verfahren wird. Aber ist das wirklich so? 

Opfer von Gewalttaten leiden oft ein Leben lang

  1. Wird der Blick zu sehr auf die Täter gerichtet? „Sowohl das Strafgesetzbuch als auch die Strafprozessordnung sind speziell auf den Beschuldigten zugeschnitten. So ist dieser dann natürlich Hauptsubjekt des jeweiligen Prozesses“, erklärt Thorsten Schleif (45), Strafrichter, Jugendrichter und Vorsitzender des Jugendschöffengerichts in Dinslaken, im Gespräch mit EXPRESS.de.
  2. Der Täter aber hat seine Strafe irgendwann verbüßt – sein Opfer leidet unter Umständen ein Leben lang. „Das stimmt wohl“, sagt Schleif, „aber ich erlebe es zum Glück auch immer wieder, dass das Opfer im Sitzungssaal zugegen ist, durchaus sehr zufrieden mit dem Urteil ist und mit dem Fall abschließen kann. Es gibt aber auch Fälle, in denen für das Opfer oder auch die Angehörigen selbst die höchste Strafe, die unser Gesetz zulässt, bei Weitem nicht ausreicht, um einen Schlussstrich ziehen zu können.“
Ein bärtiger Mann mit Anzug und Hemd lacht in die Kamera. Das Foto wurde in schwarz-weiß aufgenommen

Thorsten Schleif ist seit 17 Jahren Richter und geht mit seinem Berufsstand hart ins Gericht.

  1. Oft gibt es Warnzeichen. Sind vielleicht die Hürden zu hoch, Betroffene mit erkennbarem Gewaltpotenzial vorbeugend zwangseinzuweisen? Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) fordert, dass die rechtliche Möglichkeit, diese Menschen auch gegen ihren Willen in einer Psychiatrie zu behalten oder neu einzuweisen, häufiger genutzt wird. „Die Autonomie des Menschen ist ein hohes und schützenswertes Gut“, so DGPPN-Präsidentin Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank zur Deutschen Presse-Agentur (dpa). Es müsse aber immer wieder zwischen individueller Autonomie und Sicherheit der Gemeinschaft abgewogen werden: „Ich habe den Eindruck, dass wir uns in den letzten Jahren sehr weit auf die Seite der Autonomie gestellt haben, und damit vermutlich höhere Risiken in Kauf genommen haben.“
  2. Werden psychisch kranke Gewalttäter zu schnell wieder entlassen? Wenn akutes Gefährdungspotenzial nach der Behandlung nicht mehr eindeutig nachgewiesen werden könne, würden potenzielle Gefährder z. T. relativ schnell wieder aus der Psychiatrie entlassen, erklärt Gouzoulis-Mayfrank. Das passiere zum Teil auch, wenn sich der Zustand noch nicht ausreichend stabilisiert habe: „Wenn eine Person rasch entlassen und die Behandlung nicht weitergeführt wird, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass die Person bald wieder in einen akuten Krankheitszustand gerät.“
  3. Gibt es Krankheitsbilder, die Gewalttätigkeit begünstigen? Die überwiegende Mehrheit der Menschen mit psychischen Erkrankungen ist laut DGPPN nicht gewalttätig. Für bestimmte Erkrankungen gibt es aber ein statistisch erhöhtes Risiko, Gewalttaten zu begehen. Eindeutig gesichert sei dies für Schizophrenien und andere Psychosen, Drogenabhängigkeit und schwere Persönlichkeitsstörungen. „Aber wir können nicht mit Sicherheit vorhersagen, wer von diesen Menschen tatsächlich eine Straftat begeht“, so Gouzoulis-Mayfrank.

Experte: Abschreckungseffekt wird zunichte gemacht

  1. Stimmt der Eindruck, dass gerade bei den Strafen für Sexualstraftäter (da sind die 16.000 Fälle, in denen sich 2024 an einem Kind vergangen wurde, noch nicht eingeschlossen; Dunkelziffer sehr viel höher) sehr moderat geurteilt wird? „Ja, und das halte ich für absolut falsch. Das ist in zweierlei Hinsicht ein katastrophales Signal, was da gesendet wird“, sagt Thorsten Schleif. „Einerseits an die Gesellschaft, weil ein gewünschter Abschreckungseffekt so komplett zunichtegemacht wird. Andererseits an die Opfer und deren Angehörige, die sich denken: ‚Es kann nicht sein, dass jemand mit seiner so milden Strafe davonkommt für die unglaubliche Tat‘“, so Schleif.
  2. Werden Straftäter generell zu milde bestraft? Der Strafrahmen bei gefährlicher Körperverletzung, der von sechs Monaten bis zu zehn Jahren geht, werde laut Erfahrung des Strafrichters in vielen Fällen „nicht mal bis zur Hälfte ausgeschöpft“, meist gehe es mit „deutlich unterhalb von fünf Jahren, oft unterhalb von vier Jahren“ aus.
  1. Aber warum? So rosig sind die Sozialprognosen wohl nicht bei jedem Angeklagten? „Diese Delikte werden von den Staatsanwaltschaften, gerade auch in NRW, viel zu niedrig angeklagt, nämlich bei den Amtsgerichten. Gerade Körperverletzungen mittels Messer gehören meiner Meinung nach rigoros bei den Landgerichten angeklagt, weil sie eine ungeheure Gefährlichkeit mitbringen. Ich habe es leider schon mehrmals erlebt, dass ich einen solchen Fall an das Landgericht gegeben habe und mir der Fall mit der Begründung ‚So schlimm ist das nicht, kann das Amtsgericht machen‘ zurückgespielt wurde.“
  2. Laut des aktuellen „Roland Gerichtsreports“ haben immerhin 67 Prozent der Menschen in Deutschland Vertrauen in die Gerichte – weit über die Hälfte der Befragten hält die verhängten Strafen allerdings für zu lasch. Warum? „Leider haben zu viele Richter Angst davor, dass ein zu hartes Urteil in der Berufung oder der Revision aufgehoben werden könnte. Insbesondere betrifft das Richter beim Landgericht, die eine Heidenangst davor haben, dass der Bundesgerichtshof das Urteil entsprechend kassiert und sie vor Kollegen das Gesicht verlieren könnten“, sagt Thorsten Schleif, der die im Strafgesetzbuch vorgesehenen Strafhöhen für „absolut ausreichend“ hält. „Sie müssen nur eben richtig angewendet und ausgeschöpft werden!“

Schleif hält es für „vernünftig, wenn wir Richter erst einstellen, nachdem sie praktisch als Anwälte gearbeitet und eine gewisse Lebenserfahrung sowie Selbstbewusstsein erlangt haben“. Er sagt aber auch: „Es gibt unvernünftige Gesetze und unvernünftige Richter. Wenn beides zusammentrifft, ist das der worst case“. (smo/mit dpa)