Kreis HeinsbergLandrat Stephan Pusch nach Wut-Rede: Jetzt redet er Klartext

Stephan Pusch Heinsberg

Stephan Pusch ist Landrat im Kreis Heinsberg. Das Foto entstand 2020.

Kreis Heisberg – Der Ärger geht weiter: Der Heinsberger CDU-Landrat Stephan Pusch, 52, kritisiert mit scharfen Worten das Impfchaos und das Versagen der Politik, zugleich fordert er, die Schulen wieder zu öffnen sowie intelligentere Konzepte, um den Lockdown zu beenden.

  • Landrat Stephan Pusch im Interview
  • „An der Front ist lange nicht damit zu rechnen, dass alle Bürger und Bürgerinnen über 80 einen Termin bekommen", sagt Pusch
  • Zuvor hatte Pusch eine Brandrede auf Facebook gehalten

Hier lesen Sie unser Interview mit dem Politiker rund um das Thema Corona – nach seiner Wut-Rede.

Herr Pusch, was ging Ihnen durch den Kopf, als NRW-Ministerpräsident Armin Laschet die Terminvergabe zum Impfstart für die über 80-jährigen Frauen und Männer kürzlich für gelungen erklärte?

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Pusch: Dass er diesen Satz besser nicht gesagt hätte. Denn das Gegenteil ist der Fall, es herrscht das reinste Chaos. Ich würde mir wünschen, dass er sich mal all diese Wut-Mails von Bürgern zu Gemüte führen würde. Alternativ sollte sich Armin Laschet mal eine Stunde an unser Bürgertelefon setzen und den Zorn der alten Menschen über sich ergehen lassen, die nicht verstehen, warum sie keinen Impf-Termin bekommen.

Am Freitag haben Sie via Facebook ihrem Ärger in einer Brandrede Luft gemacht, was war der Auslöser dieser Aktion?

Pusch: Da hatte sich seit Tagen bei mir etwas angestaut. Ob Bürgertelefon oder Gesundheitsamt, überall war der Unwillen in der Bevölkerung über das Corona-Krisenmanagement spürbar. Vor Weihnachten hieß es noch, alles wird besser. Bis zum 15. Dezember 2020 mussten alle Kommunen Impfzentren hinstellen, dann aber folgte eine Hiobsbotschaft aus Berlin und Düsseldorf nach der anderen. Plötzlich fehlten ausreichende Mengen des Vakzins, um die Impfzentren in Betrieb zu nehmen. Fast zwei Monate später steht bei uns immer noch die große Anlaufstation mit vier Impfstraßen leer. Vom 8. Februar an soll der Kreis Heinsberg mit gut 250.000 Einwohnern pro Woche gerade einmal 1000 Impfdosen erhalten, dafür braucht es kein Impfzentrum, um diesen Stoff zu verabreichen.

In Ihrer Rede wirkten sie höchst angefressen.

Pusch: Zurecht. Aus heutiger Sicht wirkte das ganze Gerede vor Weihnachten wie purer Aktionismus. Ich spreche jeden Tag mit dem Leiter meines Bürgertelefons, frage nach der Stimmung. Der gab kürzlich einen Hilferuf durch. Seitdem das Thema Impfvergabe virulent ist, werden unsere Mitarbeiter beschimpft oder sie müssen miterleben, dass alte Leute zu weinen beginnen, weil sie bei der Hotline für die Terminvergabe nicht durchkommen.

Wo hapert’s?

Pusch: Offensichtlich funktioniert das Buchungssystem nicht. Da läuft viel schief. Server und Callcenter sind völlig überlastet. Dabei wusste man seit Wochen, welche Mammutaufgabe drohte. Ein Beispiel: Eine Seniorin kommt durch und will bei der Gelegenheit auch einen Termin für ihren ebenfalls über 80 Jahre alten Mann ausmachen. Das aber geht nicht. Es folgt ein Längeres Hin und Her mit dem Ansprechpartner. Der Disput dauert solange, dass letztlich die geplanten Impfdaten für die Anruferin an einen anderen Interessenten vergeben wurden. Am Ende hieß es dann, die Frau müsse es noch einmal versuchen, wenn es wieder neue Termine gebe. Solche Dinge geschehen häufig. Da braucht man sich nicht zu wundern, wenn die Leute auf die Barrikaden gehen. Den Frust lassen sie dann bei unseren Leuten am Bürgertelefon ab, die wahrlich keine Schuld trifft. Deshalb habe ich auf die Probleme aufmerksam gemacht, um den Druck von den Mitarbeitern zu nehmen.

War dies der einzige Grund?

Pusch: Nein, die Krönung war dann, dass sich parallel zu den Missständen vor Ort die zuständigen Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) und die Landesregierung gegenseitig auf die Schulter klopften, wie gut man das Ganze hinbekommen habe. Da behauptetet etwa NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann, man sei unterm Strich erfolgreich in die Impfkampagne gestartet. Solche Aussagen spiegeln die Realität nicht wieder.

Wie sieht es denn tatsächlich an der Front aus?

Pusch: An der Front ist lange nicht damit zu rechnen, dass alle Bürger und Bürgerinnen über 80 einen Termin bekommen. Zum einen fehlt es am Impfstoff, zum anderen an einer professionellen Meldelogistik. Nachbarländer haben etwa den Ticket-Anbieter Eventim damit beauftragt, dort läuft es wesentlich besser. Etliche Landräte haben schon früh gewarnt, dass die KV’s diese Herausforderung nicht bewältigen können. Wir haben sogar einen Fragenkatalog nach Düsseldorf geschickt und auf mögliche Fehlerquellen aufmerksam gemacht, aber niemand hat auf uns gehört.

An welcher Stelle sind EU, Bund und Land am Impfchaos Schuld?

Pusch: Eigentlich war Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im Sommer auf einem guten Weg, ausreichend Vakzine zu ordern. Damals waren ja schon die drei aussichtsreichsten Kandidaten Biontech/Pfizer, Moderna und AstraZeneca angesichts des Forschungsstandes so weit, dass man hätte ordern können. Dann musste das ganze Prozedere aber plötzlich über die EU-Schiene laufen und das ging schief. Die Brüsseler Bürokraten übernahmen und bestellten breitflächig bei allen Anbietern die Anti-Corona-Seren. Ganz gleich, wie weit die Firmen mit der Entwicklung des Impfstoffs fortgeschritten waren. Einem Landwirt wäre das nicht passiert, der sichert sich ab. Wenn er im Frühjahr aussäen muss, kauft er bei drei Anbietern soviel ein, dass er auf jeden Fall zurechtkommt. Da spielt es auch keine Rolle, sollten zwei Lieferanten ausfallen. In Deutschland aber flimmerten vor Weihnachten die Jubelszenen über den Bildschirm: Heißa, jetzt kommt der Impfstoff nach Berlin oder Düsseldorf. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen postete gerührte Tweets. Jens Spahn und die Kanzlerin begrüßten geradezu euphorisch die neue Entwicklung, um dann nur einige Wochen später vor den Liefer-Engpässen zu warnen. Dazu kommt jetzt noch das schleppende Buchungssystem, da muss es doch niemand wundern, dass viele Menschen das Vertrauen in die Regierenden verlieren.

Wenn man sich die EU-Verträge mit den Lieferanten anschaut, weisen diese eklatante Mängel auf, war Brüssel zu blauäugig?

Pusch: Als die Pandemie ausbrach, haben wir erlebt, wie die Nationen rund um den Globus sich wahre Angebotsschlachten um Schutzmasken lieferten. Vor dem Hintergrund zu glauben, beim Impfstoff werde die Staatengemeinschaft schiedlich, friedlich teilen, war naiv. Die USA ist früh mit hohen Summen und eine aggressiven Einkaufspolitik auf den Markt getreten. Währenddessen feilschten die EU-Einkäufer um jeden Cent und verzögerten die Vertragsabschlüsse bis in den späten Herbst hinein. Letztlich wurden derart wachsweiche Kontrakte unterschrieben, die ein guter Geschäftsmann nie abgeschlossen hätte.

Handelt die Kanzlerin richtig, in dem sie sich gegen Kritik an der Einkaufspolitik verwahrt?

Pusch: Eigentlich ist die Impfstoffbeschaffung eine nationale Angelegenheit, diese Aufgabe wurde an die EU übertragen, das ist in die Hose gegangen. Und da hätte ich mir gewünscht, wenn die Kanzlerin oder Spahn klar eingeräumt hätten, dass die Impfziele nicht wie geplant erreicht werden. Und dass sie einen Fehler gemacht hätten. Man werde aber nun alles daransetzen, das Problem zu lösen. Punkt. Ein derart ehrliches Bekenntnis hätten die Bürger akzeptiert. Aber das ist nicht passiert. Und das hat zu einer äußerst explosiven Stimmung unter den Menschen geführt. Wir Kommunen stehen an der Front, nicht die Beraterstäbe in Berlin oder Düsseldorf. Ich habe nicht den Eindruck, dass die Leute in den Ministerien mitbekommen, dass viele Bürger sich bereits am Anschlag befinden. Wir sind aber darauf angewiesen, dass die Menschen die Infektionsschutz-Regeln weiterhin gutheißen und befolgen. Das jetzige Impfchaos trägt dazu nicht bei.

Heinsberg liegt an der Grenze zu den Niederlanden befürchten sich ähnliche Corona-Krawalle wie im Nachbarstaat?

Pusch: Man kann es nicht ausschließen, vielleicht sind diese Vorfälle aber auch eher ein Phänomen großer Metropole. Wenn sich der Eindruck verfestigt, dass die da Oben das eigentliche Problem nicht erkannt haben und ihre Fehler auch noch beschönigen, dann schwindet die Akzeptanz der Regierungsmaßnahmen in der Bevölkerung. Hier müssen wir zu sehen, die Menschen wieder hinter uns zu bekommen.

Warum plädieren Sie für Lockerungen des Shutdowns nach dem 14. Februar?

Pusch: Die Schulen müssen endlich wieder geöffnet werden, die Kinder bilden hierzulande den einzigen Rohstoff, aus dem wir schöpfen können. Wenn die Jungen und Mädchen nicht herausdürfen, dann sitzen sie den ganzen Tag vor ihrem Handy oder PC und zocken mit ihren Kumpels im virtuellen Orbit. Das birgt immense soziale Probleme. Gerade Kindheit und Pubertät stellen doch wichtige Entwicklungsphasen im Leben dar. Wenn diese Schüler aber mit Gleichaltrigen nicht persönlich zusammenkommen dürfen und keine emotionale Intelligenz aufgebaut haben, dann bekommen wir da eine Generation, die außer Videospielen kaum noch etwas leisten kann. Für Kinder sind acht Wochen ohne Schule eine halbe Ewigkeit. Sollten diese Jungen und Mädchen lange Zeit Unterricht versäumen, verliert die Wirtschaft einen gut ausgebildeten Nachwuchs, der dringend gebraucht wird.

Weitere Beispiele?

Pusch: Peu a peu muss auch bei der Wirtschaft wieder gelockert werden. Unternehmer mailen mir, dass sie Ostern zumachen müssen, sollte der Lockdown dann immer noch gelten. Da tickt eine Zeitbombe. Wenn wir ehrlich sind, ist uns bisher nicht viel mehr eingefallen, als fast alles dicht zu machen. Hier braucht es intelligentere Konzepte. Wieso dürfen 500 Leute in einen Drogeriemarkt, aber nicht jeweils zwei Kunden gleichzeitig in einen kleinen Laden um die Ecke ? Vielleicht richtet man zum Schutz von Rentnern in Supermärkten bestimmte Slots für ein paar Stunden täglich ein, der Rest geht zu anderen Zeiten einkaufen. Mir ist es bis heute unverständlich, warum die Lokale geschlossen wurden. Wie man heute weiß, waren das nicht die Pandemiebetreiber. Wenn es weiter beim Lockdown bleibt, wird es bald kaum noch Gastronomen bei uns im Kreis geben.

Nun mehren sich die Stimmen, die das Corona-App-Modell der Bundesregierung für unzureichend halten, wie lautet ihre Meinung?

Pusch: Bereits vor Wochen hat der Landkreistag dem Bund mitgeteilt, dass man eine Corona-App-Plus mit einer Trackingfunktion braucht. Nur so können die Gesundheitsämter das Infektionsgeschehen wirksam nachverfolgen. In Südkorea funktioniert die App hervorragend. Nur sträuben sich die hiesigen Verantwortlichen, weil der Datenschutz in Deutschland so hochgehängt wird. Schränkt der Staat jedoch das Grundrecht wegen des Corona-Virus ein, bestehen hierzulande keine Bedenken. Das ist absurd.

Heinsberg sinkt mit seinem aktuellen Inzidenzwert gerade mal unter 100, hatten Bund und Land mit ihren harten Einschränkungen nicht doch recht?

Pusch: Das ist unbenommen. Aber Fakt ist doch auch, dass bis heute kein Virologe wirklich sagen kann, welche Maßnahme wie wirken. Das gilt für den Effekt von Schulschließungen genauso, wie für den privaten Bereich. Da sind die Erkenntnisse doch komplett diffus, folglich fehlt es an validen Daten, um die Hauptursachen für die Pandemie festzustellen. Auch das allerorten ausgelobte Ziel der 50er-Inzidenz, in deren Rahmen man die Virus-Übertragung nachvollziehen kann, ist längst überholt. Die Gesundheitsämter verfügen inzwischen über bessere Softwarelösungen, die Prozesse haben sich eingespielt. Ich gehe mal davon aus, dass wir bei einem Inzidenzwert von 200 die Lage noch gebacken bekommen.

Aber der Chef des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, betont stets, wie wichtig es wäre, unter die Inzidenzmarke 50 zu gelangen.

Pusch: Dann können wir quasi bis zum Jahresende den Laden dicht machen, bis alles durchgeimpft ist. Wenn uns aber die Leute bald den Stinkefinger zeigen, um das Leben wieder zu genießen oder ihre Kinder endlich wieder draußen mit anderen spielen lassen wollen, dann verlieren wir den Kampf um das Vertrauen der Bevölkerung. Deshalb braucht es Perspektiven. Wenn die Entscheidungsträger in Bund und Land aber nur auf die Zahlen schielen, um unbedingt unter 50 zu kommen, dann wird das nicht funktionieren. Soziale Isolation macht die Menschen kaputt.

Nun warnen die Virologen und die Kanzlerin stets vor der Gefahr der Mutationen, um weitere Einschränkungen zu begründen.

Pusch: Die Mutationen sind der große, neue Panikmacher. Mich treibt jedoch nicht so sehr Angst vor dem Virus um, sondern vielmehr fürchte ich mich davor, was Corona in unseren Köpfen anrichtet. Vielleicht sollte man auch mal mit einem einfachen Landrat über die Situation und die Stimmungslage vor Ort sprechen, anstatt immer nur mit dem Virus-Experten Christian Drosten von der Charite in Berlin. Derzeit herrscht bei uns in den Gemeinden das Gefühl vor, dass alle Stimmen wichtig sind, nur die Basis nicht.