Bonner Linie 66Fahrer gekündigt: Epilepsie-Drama kein Fall für den Staatsanwalt

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Eine grunderneuerte Bahn der Linie 66 an der Haltestelle Heussallee/Museumsmeile. Bei diesem Modell kam es am 22. Dezember zur Horror-Fahrt in Bonn.

von Stefan Schultz (stz)Marion Steeger (MS)

Bonn – Die Horror-Fahrt der Linie 66 in der Nacht vom 22. Dezember 2019: Jetzt kam die schlimme Ursache ans Licht. EXPRESS erfuhr exklusiv: Der Fahrer, der bewusstlos in der Fahrerkabine zusammengebrochen war, soll unter Epilepsie leiden!

Das aber habe er den Stadtwerken Bonn (SWB) bei seinem Bewerbungsgespräch nicht mitgeteilt. Die SWB sollen den Mann jetzt gefeuert haben. Der 47-Jährige hatte erst im September bei den SWB angefangen, befand sich also noch in der Probezeit.

Bonner Linie 66: Staatsanwalt in Fall involviert

Das Bonner Verkehrsunternehmen wollte sich gegenüber EXPRESS nicht dazu äußern. Offiziell heißt es nur: „Der Fahrer wird von uns nicht mehr eingesetzt. Er hat zukünftig nicht mehr die persönlichen Voraussetzungen als Fahrer weiter tätig zu sein“, so Sprecherin Veronika John.

Alles zum Thema Polizeimeldungen

Auch die Bonner Staatsanwaltschaft ist in den Fall involviert, ermittelt, warum die Bahn nicht stoppte. Aber: Das Thema Epilepsie spielt dabei keine Rolle, wie EXPRESS erfuhr. „Wir bestätigen das so nicht“, meint Sprecher Dr. Sebastian Buß in Sachen Vorerkrankung des Fahrers. Aber: „Grundsätzlich ist Lügen beim Einstellungsgespräch strafrechtlich nicht relevant, wäre für uns ohnehin von untergeordneter Bedeutung.“

Linie 66: Durfte Fahrer die Erkrankung verschweigen?

Dass die SWB dem 47-Jährigen gekündigt haben, entspricht offensichtlich den juristischen Möglichkeiten. „Ein Personaler darf nach Krankheiten fragen, durch die Entweder die Eignung für die vorgesehene Tätigkeit eingeschränkt ist, Ansteckungsgefahr für künftige Kollegen oder Kunden besteht oder in absehbarer Zeit mit einer Arbeitsunfähigkeit zu rechnen ist“, stellte das Bundesarbeitsgericht (7.6.84) fest. Wer lügt, kann wegen arglistiger Täuschung gefeuert werden (§123BGB).

Nach Horror-Fahrt der Bonner Linie 66: Warten auf den Untersuchungsbericht

Gespannt wartet man jetzt auf den Untersuchungsbericht der Bezirksregierung Düsseldorf zur nächtlichen Horrorfahrt der Linie 66. Möglich, dass danach grundsätzlich bei allen Verkehrsbetrieben das Sicherheitssystem von Bahnen, der sogenannte „Totmannschalter“, auf den Prüfstand kommt.

Vor knapp zwei Wochen war der Zugführer ohnmächtig in der Fahrerkabine zusammengebrochen, die Linie 66 fuhr an acht Stationen ungebremst durch. Erst durch das beherzte Eingreifen von Fahrgästen konnte die Bahn im Bereich der Haltestelle Adelheidisstraße gestoppt werden. 

Nach Horror-Fahrt: Trick machte Linie 66 langsamer

Bereits am Nachmittag des Vorfalls lobten Polizei und Stadtwerke (SWB) den Einsatz der Fahrgäste. Noch bevor sie die ersten Anweisungen durch die Leitstelle bekamen, betätigten sie selbst die Türverriegelung. Ein genialer Trick: Denn dadurch gehen die Türen während der Fahrt zwar nicht auf – die Bahn kann aber nicht mehr beschleunigen und ist somit im Roll-Modus. 

Anschließend befolgten die Fahrgäste per Handy die Anweisungen der Leitstellen-Mitarbeiter, brachen die Tür auf und stoppten den Zug. 

„Es war eine Entscheidung binnen kürzester Zeit. Da konnte man nicht groß abwägen", so SWB-Kommunikationschef Jürgen Winterwerp auf der Pressekonferenz am 22. Dezember. Ein perfektes Zusammenspiel zwischen den entschlossenen Fahrgästen und den SWB-Mitarbeitern. 

Und: Wäre der Strom komplett abgeschaltet worden, hätte das wenig gebracht. Denn die Linie 66 rollte ja schon aus.  

Nach Horror-Fahrt: Modell der Linie 66 wieder im Einsatz

Die Bonner Polizei gab die Bahn inzwischen in Absprache mit der Staatsanwaltschaft wieder für den ÖPNV frei.

Dem 47-jährige SWB-Fahrer wurde nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus psychologische Hilfe angeboten. Ein durchaus üblicher Vorgang, Dies ist ein Angebot der Stadtwerke und wird unter anderem Fahrern angeboten, wenn es zu Unfällen mit Personenschäden kommt. Auch die Fahrgäste der betroffenen Bahn können darauf zurückgreifen.

Bonn: FC-Fan Michael Heinrich saß in der Linie 66 

Es war zirka 00.40 Uhr in der Nacht zum 22. Dezember. Michael Heinrich, eingefleischter FC-Fan und bester Laune nach drei Siegen in Folge, hatte einen tollen Abend im Siegburger „Kubana“ – hörte sich ein „Zeltinger“-Konzert an. Er machte sich am Siegburger Bahnhof auf in die Linie 66 und wollte zum Bonner Hauptbahnhof. Dort musste er umsteigen und mit der Linie 16 weiter nach Bornheim, wo er wohnt.

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Michael Heinrich war einer der Fahrgäste Sonntagnacht in der Linie 66.

„Ich habe das zunächst überhaupt nicht gerafft. Ich war zwar im vorderen Wagen und mir ist auch aufgefallen, dass die Bahn immer weiterfuhr, ohne zu stoppen“, so Heinrich zum EXPRESS und weiter: „Ich habe einen Mann total panisch durch den Waggon laufen sehen und dann hörte ich plötzlich, wie Scheiben zerschlagen wurden. Ich dachte erst, dort randaliert jemand.“

Besorgte Kunden meldeten sich während der Fahrt bei der Leitstelle der Polizei – erklärten den Beamten, dass der Fahrer wohl nicht ansprechbar und bewusstlos sei und auch die Notbremsen der Bahn nicht funktionierten.

Linie 66: Fahrgäste stoppten den Zug

Dann die klare Ansage: Zwei junge Männer (26, 29) schlugen die Tür zur Fahrerkabine ein und bremsten den Zug nach Anweisungen der Leitstelle. Im Bereich der Haltestelle Adelheidisstraße konnte die 66 endlich gestoppt werden. „Als die Bahn hielt, haben wir die Türen mit der Notverriegelung geöffnet. Das war wirklich eine Horrorfahrt. Dann kam auch schon die Polizei. Die konnte jedoch nicht viele befragen, da die meisten mit der gerade ankommenden Bahn in die Gegenrichtung direkt weiterfuhren“, so Heinrich.

Zum Glück wurde niemand verletzt – der 47-jährige Bahnfahrer wurde vor Ort von Rettungsgeräten behandelt und anschließend in ein Krankenhaus eingeliefert.

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Die eingetretene Tür zur Fahrerkabine der Linie 66.

Während Horror-Fahrt der Linie 66 keine Notbremsung möglich

Warum funktionierte die Notbremse bei der Horrorfahrt nicht, die von Fahrgästen gezogen wurde? SWB-Sprecherin Veronika John: „Das ist ein Automatismus und soll auch so sein. Die Notbremse funktioniert im Bereich der Haltestellen, wenn zum Beispiel jemand ins Gleis stürzt. Auf schneller freier Strecke ist dies nicht möglich. Ein Grund ist, dass zum Beispiel bei einem Feuer die Bahn nicht in einem Tunnel stoppt. Der Fahrer bekommt ein Signal, wenn die Bremse betätigt wird, kann dann Rücksprache mit den Fahrgästen aufnehmen und den Zug stoppen. Es ist immer sicherer für den Fahrer zur nächsten Haltestelle zu fahren. Dies war natürlich in diesem Fall leider nicht möglich.“

Dass die Notbremsung letztendlich nur durch den Fahrer durchgeführt werden kann, ist bei allen Verkehrsunternehmen so geregelt. Dies gilt auch für Züge des Regionalverkehrs, IC- oder ICE-Züge.

Nach Horror-Fahrt: Lob für Fahrgäste der Linie 66

Am Sonntagnachmittag nach dem Unglück gaben SWB und Bonner Polizei eine gemeinsame Pressekonferenz. Anja Wenmakers, SWB-Bus- und Bahn-Chefin und Kommunikationsleiter Jürgen Winterwerp zeigten sich betroffen vom Vorfall und lobten die gute Zusammenarbeit von Fahrgästen und den Leitstellen von Polizei und Stadtwerken. „Wir haben dies in der Theorie oft geübt. Den Ernstfall wünscht man sich natürlich nicht, sind aber sehr glücklich, dass es so gut funktioniert hat“, so Wenmakers.

Tempo der Linie 66 noch unklar - Untersuchung läuft

Noch ist unklar, wie schnell die Bahn genau unterwegs war. Betriebsleiter Jörn Zauner ging von einem Tempo zwischen 40 und 70 km/h aus. Unwahrscheinlich war, dass die Bahn bis in die Bonner Innenstadt hätte fahren können. Zauner: „Die Fahrgäste haben gleichzeitig die Türentriegelung ausgelöst. Dadurch öffnen sich natürlich nicht die Türen während der Fahrt. Die Bahn kann aber nicht mehr beschleunigen. Sie wäre somit nie über die Kennedybrücke gekommen.“

Notsystem der Linie 66 funktionierte nicht - Ursache noch unklar

Weiter verfügen Züge und Straßenbahnen über sogenannte „Totmannsysteme“. Dadurch wird signalisiert, ob der Fahrer noch handlungsfähig ist. Die hat in der betroffenen Bahn jedoch nicht reagiert. Zum jetzigen Zeitpunkt gehen die Stadtwerke davon aus, dass es an der Haltung bzw. Position des Fahrers lag und somit das wichtige Signal nicht übermittelt werden konnte. Dadurch hätte die Bahn automatisch abgebremst. 

SWB-Sprecherin John: „Die Sicherheitsfahrschaltung, umgangssprachlich „Totmann“, bei Stadt- und Straßenbahnen funktioniert so, dass der Fahrer einen Schalter gedrückt halten muss. Bleibt der Druck auf diesen Schalter aus, wird die Bahn automatisch bis zum Stillstand abgebremst. In den Bahnen der SWB Bus und Bahn sind jeweils zwei Schalter verbaut, einer wird mit der Hand, der andere mit dem Fuß betätigt. Welchen der beiden Schalter das Fahrpersonal nutzt, bleibt ihm überlassen, aber einer der beiden muss dauerhaft gedrückt werden.“

Sicherheitssysteme für Stadt-, Straßen und U-Bahnen sind klar geregelt und gelten in Deutschland überall gleich. Die Funktionsweise der Sicherheitseinrichtungen in Stadt- und Straßenbahnen sind in der „Verordnung über Bau und Betrieb der Straßenbahnen“ (BOStrab) beschrieben. „Alle Bonner Bahnen sind nach dieser Verordnung konzipiert und gebaut", so John.

Oberbürgermeister zur Fahrt der Linie 66

Oberbürgermeister Ashok Sridharan war von Wenmakers sofort über den Vorfall informiert worden und dankte den Fahrgästen, die so entschlossen gehandelt haben. „Sie haben in einer gefährlichen Situation genau das Richtige getan und so womöglich Leben gerettet. Ich lade Sie gerne ins Alte Rathaus ein, um Ihnen auch persönlich zu danken“, so Sridharan und wünschte dem Fahrer der Bahn gute Besserung.

Unterdessen fordern Politiker wie der Verkehrsexperte der Grünen, Rolf Beu, nach Abschluss aller Untersuchungen die Sicherheitssysteme entsprechend zu prüfen und gegebenenfalls zu  überarbeiten. Möglich, dass genau das nach dem Bericht der Bezirksregierung passiert.