Wir waren kölsche MiljönäreLanger Tünn: „Ich habe mein Leben verzockt“

In Wettbüros verzockte der „Lange Tünn“ sein Geld. Noch heute blickt er regelmäßig auf Spielscheine.

In Wettbüros verzockte der „Lange Tünn“ sein Geld. Noch heute blickt er regelmäßig auf Spielscheine.

von Markus Krücken (krue)

Köln – Rien ne va plus – ein Motto der Miljö-Zeiten. Denn das Glücksspiel boomte ab den 60er Jahren. In Clubs wie dem „Las Vegas“ auf der Venloer Straße, der „Nr. 9“ im Klapperhof oder auch in manchen privaten Wohnzimmern trafen sich die Spieler zum Roulette, Black Jack oder Poker und verzockten in wenigen Stunden ganze Vermögen. Razzien und gezinkte Karten waren an der Tagesordnung. Und das Glück war selten bei den Süchtigen...

Im Hintergrund flimmern Fußballspiele über die Bildschirme, doch der Abend ist für Anton Claaßen (69) längst gelaufen. Ein Dutzend Wettscheine liegt zusammengeknüllt vor ihm. Am Tisch im schummrigen Wettbüro sitzt er alleine. „Alles verloren. Wie immer“, sagt er gefasst, „ich bin chronischer Verlierer, jeder in Köln weiß das. Ich habe Millionen in meinem Leben verloren.“

Süchtig mit 14

Der „Lange Tünn“, wie sie ihn im Miljö tauften, ist dem Glücksspiel verfallen, seit er 14 Jahre alt ist. Kaum ein anderer hat die ab den 60er Jahren florierende Zocker-Zeit so exzessiv gelebt wie der „Lange Tünn“, geboren auf der Ehrenstraße.

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Damals schossen illegale Spielcasinos am Ring wie Unkraut aus dem Boden. Der „Lange Tünn“ wird Stammgast, täglich, wenn der Club aufmacht bis zum Ende – und verliert schnell die Relation zum Geld.

200.000 DM in zwei Tagen verzockt

Die 200.000 D-Mark, die er in seinen ersten beiden Türsteherjahren zusammengespart hatte, verzockt der junge Mann in nur zwei Tagen. Vier Wochen traut sich Claaßen aus Scham und Frust nicht aus seiner Wohnung am Ring, dann will er sein Glück erzwingen: „Ich liebte diese Atmosphäre. Ich ging in die Casinos und beobachtete, dass immer nur dieselben Spieler gewannen. Ich wusste: Da musste etwas krumm sein. Also ging ich zum Croupier.“

Der „Lange Tünn“ schafft es, dass er in den Kreis der Gewinner aufgenommen wird. Bedingung: Nur kleine Einsätze tätigen, das Maul halten und immer neue Spieler mitbringen.

Es reichte ihm nicht

Doch die Peanuts reichen ihm nicht. Mit einem Freund beginnt der „Lange Tünn“ zu „zinken“ – er manipuliert die Karten und wird selbst Croupier. Da er keinen Tropfen Alkohol trinkt und Nachtmensch ist, bleibt er stets hellwach und aufmerksam.

„Wir haben mit kleinen Nadeln oben Löcher in die Karten gestochen. Ein Loch hieß As, zwei Löcher König. Und so weiter. Wir sorgten dafür, dass unsere Karten in den Spielclubs in Umlauf kamen und fuhren sie dann in ganz Nordrhein-Westfalen ab. 95 Prozent unserer Spiele gewannen wir, weil wir ja wussten, welche Karten kommen. 3000 bis 5000 DM sprangen so jeden Abend heraus.“

Hausverbot bei „Glucke“

Die Branche ist im Manipulieren erfinderisch: Ein Wettclub-Besitzer lässt einen präparierten Roulette-Kessel aus Las Vegas einfliegen. Tünn ist als Zeuge dabei, wie ein Kölner Bankdirektor dadurch sein komplettes Vermögen in wenigen Tagen verliert.

Das bestärkt ihn, und eine Zeit lang geht sein Zinker-System auf. Der „Lange Tünn“ zieht Spieler am Fließband ab. Heute verdrängt er die Namen derer, die sich durch Wettverluste ruinierten, sich das Leben nahmen. Klar ist: Nicht allen behagt sein Absahnen in dieser Zeit. Der mächtige Wettclub-Besitzer „Glucke“ fühlt sich betrogen und erteilt dem „Langen Tünn“ Hausverbot für seine Läden.

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„Wir spielten offene Bank“

Die Zocker-Karriere wird dann vollends unterbrochen, als er im Einsatz als Croupier bei einer Razzia im Klapperhof mit „hochgeht“.

„Wir spielten offene Bank, also man konnte so hoch setzen, wie man wollte. Da stürmten plötzlich die Polizisten rein, die Spieler schmissen ihr Geld auf den Boden. Ich musste mich vor den Polizisten bis auf die Unterhose und Strümpfe ausziehen“, erinnert er sich und freut sich diebisch, denn: „Als der Polizist Grunert einen Moment nicht aufpasste, steckte ich mir zwei Tausender, die vor mir auf dem Boden lagen, in den Strumpf. Das war mein kleiner Triumph.“

Als das Geld knapp wird und es nur noch staatliche Casinos gibt („Mein Todesurteil“), schwenkt der „Lange Tünn“ um. Dank seiner Kontakte ins Rotlicht wird er zum Stenz. Was er in den Puffs von Frankfurt und Halle/Saale, wo er als Aufpasser fungiert, erlebt, taugt für einen Mehrteiler im TV.

Rückkehr als Türsteher

Claaßen ist bis heute eine joviale, beredte Frohnatur. Doch im Miljö kann er auch anders: Als er im Puff einen aggressiven Freier mit einem Baseballschläger ins Koma befördert und sein Haus, in dem er seine gesparten 400.000 DM unter der Badewanne versteckt hat – angeblich wegen eines Kabelschadens – explodiert, heißt es: Abfahrt aus dem Osten, Heimkehr nach Köln.

Das Geld ist alle und das Miljö-Kind kehrt zu den Wurzeln zurück: Als Türsteher. Bis vor wenigen Jahren macht er im „Klein Köln“ und „Rhein Roxy“ die Tür. Heute lebt er vom Amt, gibt beliebte Stadtführungen. Was er so verdient, bringt er ins Wettbüro.

„Ich habe nie gern gepoppt“

Pech im Spiel, Glück in der Liebe? Nicht bei Tünn. Kinder hat er keine. „Ich habe nie gern gepoppt“, sagt er unverblümt. „Ich habe eine kleine Wohnung und bin zufrieden. Meine Liebe galt immer meinen Hunden. Und dem Zocken.“ Früher warf er mit Tausendern am Spieltisch um sich, die Einsätze heute liegen bei zwei und drei Euro. Und immer verliert der „Lange Tünn“.

Doch er wird auch heute Abend im Wettbüro sitzen und die Champions-League-Partien tippen. Und morgen auch. „Zu mir hat ein solider Mann gesagt: „Tünn, ich gebe dir eine Million. Du kriegst es nicht fertig, damit tausend DM zu verdienen.“ Und ich musste antworten: „Du hast Recht...“

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Der Mann an der Tür

Die Miljö-Jahre sind hart für die Türsteher. Schlägereien und Überfälle sind schon damals am Ring an der Tagesordnung. Der „Lange Tünn“ war seit den Sechzigern der Mann am Eingang – und wurde damals zum Vorbild für viele Türsteher. Denn „an ihn“, so Ex-Lude „Frischse Pitter“, „traute sich keiner ran.“

Seine Karriere beginnt er am „Lovers Club“ am Hohenzollernring, gegenüber dem heutigen Diamonds – 200 DM kriegt er pro Abend. Tünn traut sich sogar, den berüchtigten „Schäfers Nas“ nicht reinzulassen. „Aber nur einmal“, erinnert er sich, „sonst hätte ich ein richtiges Problem bekommen...“ Die Gäste heißen Jimi Hendrix oder Günter Netzer.

Tünns Leben spielt in der Nacht – tagsüber der gleiche Takt: 15 Uhr aufstehen, bis 22 Uhr ins Fitness-Studo, dann in den Club.