Vor 20 JahrenLegendäre Tour! So raste Ullrich 1997 in den Pyrenäen ins Gelbe Trikot
Köln/Bonn – Für den Bonner Rennstall Team Telekom ist am 5. Juli 1997 klar: Bjarne Riis ist unser Kapitän. Der Däne, damals 33 Jahre alt, hatte die Tour de France 1996 gewonnen und soll dies auch 1997 schaffen. Doch die französische Sport-Tageszeitung „L’Equipe“ sieht das vor den 21 Etappen über 3942 Kilometer anders. Sie vergeben im Vorfeld nur einem Fahrer fünf Sterne: Jan Ullrich, damals 23 Jahre alt.
Massensturz sprengt das Feld
Der rothaarige Junge aus Rostock hatte im Jahr zuvor Rang zwei belegt und ist in diesem Jahr noch besser in Form. Nur die Bonner Teamführung will weiter auf den erfahrenen Riis setzen.Dann hilft das Schicksal Ullrich auf die Sprünge und löst in Deutschland einen gewaltigen Radsport-Boom aus. Das Thema Doping liegt da noch hinter der Schweigemauer der Radsportszene verborgen.
Ullrich nimmt Riis schon beim Prolog über 7,3 Kilometer acht Sekunden ab. „Und dann ebnete ein Massensturz auf der 1. Etappe den Weg für Ullrich“, erinnert sich Edelhelfer Udo Bölts (siehe auch Interview unten). Elf Kilometer vor dem Ziel wird das Fahrerfeld durch den Crash in zwei Teile gesprengt. Ullrich befindet sich in der Gruppe vor dem Sturz, Riis dahinter. Im Ziel liegt Ulle eine Minute vor Riis. Das Gelbe Trikot trägt Sprinter Mario Cipollini.
Telekom hält an Riis fest
Die Telekom-Führung eiert in den folgenden Tagen noch rum. Auf der neunten Etappe hilft Ullrich Riis, der nach einer Attacke von Bergkönig Richard Virenque arge Probleme hat. Am Ende kann Riis aber nicht mehr folgen und verliert weitere Sekunden auf Ullrich. Der Youngster liegt 13 Sekunden hinter Cédric Vasseur, dem Mann in Gelb, Riis ist schon 1:43 Minuten zurück.
Er will aber Kapitän bleiben, sagt: „Ich hatte nur einen schlechten Tag, das kann sich schon morgen ändern.“Und Ulle ergänzt: „Bjarne bleibt unser Kapitän, die Tour hat gerade erst angefangen.“
Legendärer Ritt nach Andorra
Es folgt am 15. Juli die 10. Etappe über 252,5 Kilometer in den Pyrenäen von Bagneres-du-Luchon nach Andorra-Arcalis. Es ist die Geburtsstunde des größten deutschen Radstars. Es ist der Tag von Jan Ullrich, der ins Gelbe Trikot stürmt. Auch von Riis heißt es plötzlich: Volle Pulle, Ulle! Acht Kilometer vor dem Ziel fährt Riis neben Ullrich und flüstert ihm ins Ohr: „Wenn du dich stark fühlst, fahr los!“
Ulle haut unnachahmlich in die Pedale – elegant, stets sitzend und enorm kraftvoll. Folgen kann ihm keiner. Am Ende der 10. Etappe hat er das Gelbe Trikot, distanziert die Konkurrenz gewaltig. Virenque, der Zweitplatzierte in der Gesamtwertung, liegt 3:18 Minuten zurück.
Ullrich trägt Gelb bis ins Ziel nach Paris. Als erster deutscher Toursieger schreibt er Geschichte. Dass sie Jahre später nach zahlreichen Doping-Enthüllungen zerstört wird, ist eine andere ...
Auf der nächsten Seite: So half Bölts Ullrich zum Sieg
„Quäl dich, du Sau!“
Manchmal verfolgen einen die Dinge ein Leben lang. Bei Udo Bölts (50) ist es der Spruch, der Jan Ullrich 1997 zum Toursieg verhalf.
Auf der 18. Etappe, Ullrich ist mit einer Erkältung leicht angeschlagen, geht es durch die Vogesen. Kein Hochgebirge, aber knackig. Richard Virenque attackiert, Ulle bleibt im Feld sitzen. Von hinten beobachtet Bölts die Szenerie, fährt zu Ulle auf und schnauzt ihn an: „Quäl dich, du Sau!“
Bölts zieht Ullrich, bis sie zu den Ausreißern aufschließen. Eine enorme Leistung von Bölts, der zuvor bei der Tour schon fünfmal gestürzt ist und mit starken Schmerzen fährt.
Heute lacht Bölts im Gespräch mit unserer Redaktion: „Mit diesem Spruch werde ich ständig konfrontiert. Hoffentlich steht er nicht auf meinem Grabstein.“
Der Hype hat uns überfahren
Die Tour und vor allem die Hysterie danach, erlebte Bölts wie im Rausch: „Ullrich war ein Jahrhundert-Talent, aber es war auch alles ein bisschen viel auf einmal nach dem Toursieg. In ganz Deutschland war ein Wahnsinns-Hype ausgebrochen. Das hat uns schon überfahren. Aber die Fahrt nach Paris auf den Champs-Élysées werde ich nie vergessen.“
Zwölf Tour-Teilnahmen hatte Bölts am Ende seiner Karriere – ein Ausnahme-Athlet. Heute fährt er noch Mountainbike-Rennen. „Ich bin mittlerweile in der Kategorie Grandmaster unterwegs“, lacht er. Beruflich kümmert sich Bölts als Förster um 90 Kilometer Wanderwege und 180 Kilometer Mountainbike-Wege in Waldfischbach-Burgalben (Rheinland-Pfalz).
Auf der nächsten Seite: Das machen die Telekom-Stars heute
Bölts arbeitet heute als Förster
Im Jahr 1997 war das Bonner Team Telekom das beste der Welt. Wir erklären, was die Hauptdarsteller heute machen:
Teamchef Walter Godefroot (73) lebt als Rentner in der Nähe von Gent.
Bjarne Riis (53) ist Teamchef beim dänischen Rennstall Veloconcept.
Udo Bölts (50): Kümmert sich als Förster in der Pfalz um Mountainbike- und Wanderwege.
Rolf Aldag (48) ist Sportlicher Leiter beim südafrikanischen Team Dimension Data.
Erik Zabel (46), Repräsentant für die Fahrradmarke Canyon.
Georg Totschnig (46): Hilft im österreichischen Radsportverband aus.
Christian Henn (53): Arbeitet im Radverein Rhein-Neckar.
Giovanni Lombardi (48): Als Radsportmanager betreut der Italiener unter anderem den gerade bei der Tour ausgeschlossenen Weltmeister Peter Sagan.
Jens Heppner (52): War bis 2013 Sportlicher Leiter bei NetApp-Endura, begleitet jetzt Radtouristik-Gruppen.
Jan Ullrich (43): Hat vier Kinder aus zwei Ehen. Lebt derzeit auf Mallorca und bietet Radtouren für Fans an.
Das könnte Sie auch interessieren: