„Dann kriegen wir Riesenproblem“Top-Virologe gesteht Zahlen-Wirrwarr und warnt

martin stürmer runde markus lanz

Der Top-Virologe Martin Stürmer (2. v. r.) war am Dienstag zusammen mit Politiker Robert Habeck, Journalistin Claudia Kade, Fußballfunktionär Max Eberl bei „Markus Lanz“ zu Gast.

Köln – Der Anstieg der Reproduktionszahl über den kritischen Wert 1 und die Lockerungen der Infektionsschutzmaßnahmen in Deutschland sind auf ungünstige Weise zusammengefallen. Viele Menschen bereitete das Sorge.

Auch bei „Markus Lanz“ im ZDF wurde diese Entwicklung am Dienstagabend thematisiert. Vor allem die Bewertung des Robert-Koch-Instituts, man müsse diese aktuellen Zahlen bereinigen beziehungsweise glätten, stimmte Moderator Markus Lanz nachdenklich. „Wie ist das zu verstehen?“, fragte er Martin Stürmer, den Top-Virologen in der Runde.

Stürmer ist Virologe, Leiter eines Medizinlabors und Lehrbeauftragter für Virologie an der Universität Frankfurt.

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Virologe Stürmer bei Markus Lanz über neue Reproduktionszahl

Die Reproduktionszahl sei eine der vielen Parameter, die dazu benutzt werden, um eine Pandemie zu beschreiben. Zwar sei sie ein relativ wichtiger Wert, laut Stürmer müsse man sie allerdings wie viele andere Werte auch abhängig von den Fallzahlen verstehen.

Es sei deutlich, dass der aktuelle Anstieg der Reproduktionszahlen durch die drei Landkreise „getriggert“ worden sei, also künstlich in die Höhe getrieben. Gemeint sind die massenhaften Ausbrüche in den großen Fleischbetrieben in Coesfeld und Bad Segeberg. Das sei der Grund, warum so viele Fallzahlen zusammengekommen seien.

Dementsprechend hätten wir jetzt einen Anstieg bekommen, der aber nicht repräsentativ für ganz Deutschland sei, da er durch lokale Infektionsgeschehnisse in die Höhe getrieben wurde. Deshalb habe sich auch das RKI dazu entschlossen, diese Ausreißer zu glätten.

„Das wird unsere neue Reproduktionszahl sein, die geglättete, die eben nicht sofort auf einen solchen isolierten Ausbruch reagieren wird, sondern eher ein konstanteres Bild liefern wird“, erläutert Stürmer. Das sei für viele Menschen auch verständlicher, damit nicht jeder kleine Anstieg sofort wieder überinterpretiert wird und man sich Sorgen macht.

Top-Virologe gesteht bei Markus Lanz zahlen-Wirrwarr ein

„Man muss immer die Trends beobachten und das wird mit so einer geglätteten Zahl vermutlich einfacher sein“, so Stürmer weiter.

Obwohl nachvollziehbar, ist ein solches „Glätten“ der Statistik doch sehr komplex und für den Laien verwirrend. Markus Lanz sieht darin, super Futter für Verschwörungstheoretiker, die jetzt wieder den Vorwurf vorbringen, die Virologen kämen schon wieder mit neuen Zahlen.

Die überraschende Antwort des Top-Virologen Stürmer: „Das ist definitiv kontraproduktiv, sehe ich genauso. Wir haben mit der Infektionszahl angefangen, die Verdoppelungszahl bzw. -zeit war dann relevant, dann die Reproduktionszahl, jetzt haben wir die geglättete, das ist natürlich in der Kommunikation nach außen hin suboptimal.“

martin stürmer bei Lanz

Virologe Martin Stürmer warnte am Dienstag bei Markus Lanz für einer fatalen Entwicklung.

Dabei seien die Corona-Daten eigentlich schon immer ein Zusammenspiel der vielen Zahlen gewesen, das habe man aber in der Form eben nicht nach außen kommuniziert. „Das macht es natürlich für die Verschwörungstheoretiker sehr leicht, uns vorzuwerfen, wir würden immer wieder neue Zahlen erfinden, um das Land in Schach zu halten. Das ist aber definitiv nicht der Fall. Von Anfang an spielten alle diese Zahlen eine Rolle“, macht Stürmer klar.

Virologe Stürmer bei Markus Lanz: „Dann kriegen wir Riesenproblem“

Dennoch eine fatale Situation, glaubt der Virologe. Der Zulauf bei den Demonstrationen sei vermutlich auch auf diesen Zahlen-Wirrwarr zurückzuführen. Jetzt gebe es endlich Lockerungen, nach so langer Zeit des Verzichts. Doch dann, wenn man diese gewonnen Freiheiten auch ausleben will, komme der böse Virologe mit erhobenem Zeigefinger.

„Ein Einfallstor für Verschwörungstheoretiker“, glaubt auch Stürmer. „Das ganze Konzept des Infektionsschutzgesetz und der Maßnahmen beruht auf Freiwilligkeit. Und die meisten halten sich ja auch daran. Doch ich habe die Befürchtung, dass wenn sich das in den Köpfen festsetzt, dass wir nächste Woche nicht Tausend, sondern vielleicht Zehntausend auf den Straßen sehen. Dann kriegen wir ein Riesenproblem.“

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Er sei selber ein Befürworter von Lockerungen gewesen, obwohl er als Virologe natürlich einen strengeren Weg gegen das Virus sieht. Aber bei den Bildern der teils gewalttätigen Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen „bleibt mir die Spucke weg“, erklärt Stürmer.

Martin Stürmer über seine eigene Covid-19-Erkrankung

Was viele beim Feindbild des Infektiologen vergessen, er sei als Bürger ja auch selbst von der Corona-Pandemie betroffen. Sogar physisch betroffen, denn er habe sich in Österreich beim Apres-Ski mit Covid-19 angesteckt.

„Das zeigt einfach, wie schnell man sich infizieren kann, auch wenn man vorsichtig ist.“ Es sei dann zum Glück alles gut verlaufen. „Aber ich weiß letztlich natürlich auch nicht, was jetzt nach der Infektion in meinem Körper noch passiert. Ich hatte keinen Geruchssinn mehr, ich hatte keinen Geschmackssinn mehr.“

Auch heute noch sei sein Geschmackssinn nur teilweise zurückgekehrt. Subjektiv habe er das Gefühl, dass er nicht mehr so gut schmecke, wie vorher. Deswegen könne es sein, dass das Virus auf lange Zeit doch mehr Schäden im Körper anrichtet, als wir bis dato vermuten, weil wir es ja auch noch nicht haben testen können, warnt der Virologe. (jv)