„Bedrohung unserer Demokratie“Lehmann (Grüne) über Hassattacken, Corona-Kampf und den Atomausstieg

Interview mit Sven Lehmann (Bündnis 90/ Die Grünen).

Sven Lehmann (Bündnis 90/Die Grünen), Queer-Beauftragter der Bundesregierung, am 11. August 2022 im Neven-DuMont-Haus.

Der Kampf für gesellschaftliche Vielfalt und Generationengerechtigkeit treibt den Kölner Bundestagsabgeordneten Sven Lehmann an. Beim Besuch von Express.de spricht er unter anderem den Hass im Netz an.

von Alexander Haubrichs (ach)

Als Queer-Beauftragter der Bundesregierung ist der Kampf für die Akzeptanz von Minderheiten die Jobbeschreibung für Sven Lehmann (42). Der Grünen-Politiker aus Köln ist Staatssekretär im Familienministerium und besuchte die Redaktion von EXPRESS.de. Im Gespräch zeigt er sich besorgt über die Beschneidung von Frauen- und queeren Rechten in den USA und Osteuropa.

Deutschland soll unter der Ampel-Regierung leuchtendes Gegenbeispiel für gesellschaftliche Akzeptanz sein. Und er sagt der Verrohung im Netz den Kampf an. „Das ist eine Bedrohung unserer Demokratie“, sagt Lehmann. Ihn erreichen selbst etwa 100 Hass-Nachrichten am Tag, vereinzelt auch Morddrohungen. „Ich kann damit umgehen. Andere können es nicht. Deshalb ist es ein Auftrag an die Politik, dagegen vorzugehen.“

Lehmann: „Nachfrage nach queeren Themen ist da“

Sven Lehmann, EXPRESS.de setzt mit seinem queeren Tiktok-Kanal und einer breiten Berichterstattung bewusst auf queere Themen. Wie nimmt der Queer-Beauftragte der Ampel-Regierung das wahr?

Alles zum Thema Corona

Lehmann: Ich finde es herausragend, was in verschiedenen Medien geleistet wird. Dass so eine große Redaktion queere Themen intensiv bespielt, ist eher neu. Es gibt ja die Debatte: Bekommt das Thema sexuelle und geschlechtliche Vielfalt zu viel Aufmerksamkeit? Aber es gibt eben eine große Nachfrage nach Informationen und Berichterstattung. Das zeigt, dass der Bedarf da ist. Deshalb freue ich mich, wenn Medien sich diesen Themen verstärkt widmen. Denn es ist wichtig, dass auch in der breiten Öffentlichkeit darüber gesprochen wird, dass etwa Homosexualität oder Transgeschlechtlichkeit etwas ganz Normales sind.

Es gibt in verschiedenen Demokratien besorgniserregende Gegenbewegungen gegen feministische und queere Anliegen.

Lehmann: Ja, das ist eine besorgniserregende Entwicklung, dass in den USA oder in Osteuropa mühsam erkämpfte Rechte unter Druck geraten und eingeschränkt werden. Das Recht auf Abtreibung oder auf Eheschließung für alle und viele andere sind ja nicht vom Himmel gefallen. Sie sind immer erkämpft worden. Wenn in Schulen untersagt wird, über solche Themen zu sprechen, dann ist das schon alarmierend. Umso wichtiger finde ich, dass wir in Deutschland da eine Gegenposition einnehmen und die gesellschaftliche Vielfalt akzeptieren und sichtbar machen. Da hat sich in den vergangen 16 Jahren viel Reformbedarf angestaut, aber wir haben schon wichtige Schritte unternommen, wie z.B. die Abschaffung des Informationsverbots bei Schwangerschaftsabbrüchen und die Eckpunkte für ein Selbstbestimmungsgesetz. Aber wir haben noch viel vor, etwa Maßnahmen gegen Hasskriminalität oder für ein modernes Familienrecht. Da freue ich mich total darauf, das mitzugestalten.

Täuscht der Eindruck oder kamen bei der Affenpocken-Diskussion alte Vorurteile gerade gegen Homosexuelle hoch, wie Sie sie aus der Aids-Epidemie kannten?

Lehmann: Da habe ich gleich bei den ersten Fällen darauf gedrungen, dass wir bei der Kommunikation Acht geben müssen und mich dazu mit dem Robert-Koch-Institut und Gesundheitsminister Karl Lauterbach abgestimmt. Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass das eine Krankheit ist, die nur eine Personengruppe betrifft. Das wiegt in falscher Sicherheit. Wir brauchen ein schnelles und ausreichendes Impfangebot, denn die Impfbereitschaft ist sehr hoch. In manchen Bundesländern wie Berlin gibt aber es so gut wie keinen Impfstoff mehr. Im September sollen die vom Gesundheitsministerium bestellten weiteren 200.000 Dosen kommen. Es gibt bei Affenpocken kein Grund zur Panik, aber wir brauchen mehr Impfstoff und eine gute Impfkampagne.

Corona-Pandemie: Lehmann fordert Tests in Schulen und Kitas

Kann die Ampel überhaupt noch gegen eine nächste Pandemie wirksam vorgehen? Oder ist Maßnahmen-Müdigkeit zu groß?

Lehmann: Die Corona-Pandemie wird uns auch im Herbst und Winter wieder verstärkt beschäftigen. Deswegen ist es richtig und wichtig, dass wir jetzt schnell das Infektionsschutzgesetz so anpassen, dass Schutz-Maßnahmen wie die Maskenpflicht in öffentlichen Einrichtungen vorgeschrieben werden können. Aber was mir wichtig ist: Wir sind fest entschlossen, Schulen und Kitas, Kultur und Gastronomie offenzulassen.

Tests in den Schulen scheinen nicht geplant.

Lehmann: Ich persönlich finde Tests weiterhin sehr sinnvoll. Die Pooltests haben beispielsweise gut funktioniert. Gutes Testen in den Einrichtungen für Kinder und Jugendliche bleibt ein Schlüssel. Das sollten Bund und Länder in ihren Maßnahmenpaketen berücksichtigen.

Sie haben eben die Hasskriminalität angesprochen. Nach dem Suizid der österreichischen Ärztin Lisa Maria Kellermayr ziehen sich immer mehr Wissenschaftler aus dem Netz zurück. Wie groß ist die Gefahr, dass die Wissenschaft verstummt?

Lehmann: Die Gefahr ist da, die Verrohung im Netz und auch auf der Straße ist real. Der Fall von Frau Kellermayr ist sehr bedrückend, weil sie eine sehr gute Impfärztin war, die wichtige Öffentlichkeitsarbeit für eine wirksame Corona-Vorsorge gemacht hat und sich dafür viel Hass ausgesetzt sah. Das ist kein privates Problem. Es ist auch kein österreichisches Problem. Es ist eine Bedrohung unserer Demokratie. Und es betrifft sehr oft bestimmte Gruppen. Frauen, queere Personen, Geflüchtete und jene, die sich exponiert für Klimaschutz und eine gute Corona-Politik einsetzen. Ich selbst erhalte rund 100 persönliche Hassnachrichten am Tag. Ich kann damit umgehen, andere können es nicht. Deshalb ist das ein Auftrag an die Politik, mehr gegen Hasskriminalität zu unternehmen.

Die beispiellose Dürre in diesem Sommer hat noch nicht zu einem tatkräftigen Anpacken gegen die Klimakatastrophe durch die Ampel geführt.

Lehmann: Das sehe ich anders, wir haben das größte Gesetzespaket für den Ausbau der Erneuerbaren Energien beschlossen, das es je gab. Ich habe aber die Sorge, dass wegen der Vielzahl der Krisen der Klimawandel ein wenig in Vergessenheit gerät. Corona, dazu der Krieg in der Ukraine, jetzt die Sorge über die steigenden Energiekosten. Ich verstehe jeden, der sich erstmal darum sorgt, wie er im Winter seine Wohnung heizt. Aber der Klimawandel geht leider weiter. Deshalb werden wir den Ausbau der erneuerbaren Energien weiter vorantreiben. Und deshalb müssen wir auch eine Anschlussregelung für das 9-Euro-Ticket finden.

Erwischt die Atomdiskussion die Grünen auf dem falschen Fuß?

Lehmann: Nein, im Gegenteil. Die Atomenergie ist eine gefährliche Technologie. Das sieht man gerade in der Ukraine, wo ein Atomkraftwerk zwischen die Fronten geraten ist. Und schaut man nach Deutschland stellt man fest: Die laufenden deutschen Kraftwerke sind seit rund 13 Jahren nicht gewartet worden. Niemand kann behaupten, dass die AKW sicher sind. Auch der TÜV nicht. Der Schlüssel ist, Gas und Energie einzusparen.

Die deutsche Gesellschaft wird immer älter, die Mehrheiten damit auch – wie schafft man es da, dass die Jugend eine Stimme in der Politik hat?

Lehmann: Wir brauchen ein Bündnis für die junge Generation. Die hat auf irre viel verzichten müssen in den letzten Jahren Corona. In den kommenden Debatten werden wir als Familienministerium auch die Stimme für die jungen Menschen sein. Wir starten in Kürze mit einem bundesweiten Aktionsplan, um junge Menschen viel stärker als bisher an politischen Entscheidungen zu beteiligen.