Moritz offen wie nieOlympia-Held Müller: Sein bewegender Karriere-Start

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Moritz Müller bei Olympia 2018: Nach dem Halbfinalsieg über Kanada hatte er Tränen in den Augen.

von Uwe Bödeker (ubo)

Köln – EXPRESS-Sportnacht. Lichtgestalt 2018. Die deutschen Eishockey-Profis werden am Mittwochabend, 29. August, im  Kölner Fußball-Tempel vor über 900 geladenen Gästen für ihren sensationellen Auftritt bei den Olympischen Winterspielen geehrt.

Unter den Helden, die sensationell Silber gewannen, ist auch Moritz Müller (31). Ein Kämpfer, der sich nach ganz oben arbeitete, wobei ihm nichts, aber auch gar nichts geschenkt wurde. Lesen Sie selbst.

Der 25. Februar 2018, Gangneung Hockey Centre. Auf dem Eis stehen jubelnde Russen und enttäuschte deutsche Eishockeyspieler. In der Bundesrepublik ist es 8 Uhr in der Früh. Gut drei Millionen sind hier um 4.30 Uhr in der Nacht aufgestanden, um das Finale zwischen Deutschland und Russland im TV zu verfolgen. Ein historischer Moment. Einmalig für Deutschland...

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So schildert Müller die Niederlage gegen Russland

Moritz Müller beschreibt die Momente nach dem dramatischen Finale: „Wir hatten die Russen am Rande der Niederlage, wir hatten die Goldmedaille schon fast. 55 Sekunden haben gefehlt, da retten sich die Russen mit dem 3:3 in die Verlängerung.  In Überzahl schießt  Kaprisow sie dann zum Olympiasieg. Bei uns waren viele Spieler, die gleich gesagt haben: “Jungs lasst uns auch feiern! Wir haben Silber, lasst uns nicht traurig sein.“ Aber ich konnte zunächst nicht jubeln. Vielleicht auch, weil ich auf dem Eis stand, als wir verloren haben. Hätte ich nicht doch etwas tun können gegen den Treffer? Wir waren so nah dran. Aber nach einigen Stunden hat dann natürlich die Freude überwogen.“

Moritz Müller reist mit der Silbermedaille  aus Südkorea heim nach Köln. Der 31-Jährige krönt seine einzigartige Karriere (hier mehr Hintergründe und das Lob seiner Frau Nadja Eichin).

Und er findet Zeit, um  zurückzublicken. Dorthin, wo alles anfing. Müller hat sich alles selber hart erarbeitet, ist an jedem Schicksalsschlag gewachsen, hat nie aufgegeben.

Rückblick Frankfurt, 19. November 1986:

Der kleine Moritz erblickt das Licht der Welt. Er ist der jüngste Spross, hat noch fünf Geschwister.  „Ich würde ungern sagen, dass ich in schwierigen Verhältnissen aufgewachsen bin. Es war genau so viel Schönes wie nicht so Schönes dabei“, sagt Müller heute, „Ich denke jedenfalls nicht negativ an meine Kindheit zurück. Aber es gab ein paar Schicksalsschläge, die uns als Familie getroffen haben und die wir unterschiedlich weggesteckt haben.“

Das traurige Geheimnis hinter Moritz Müllers Rückennummer 91

1991 verstirbt die Mutter von Moritz. Die Nummer 91 auf seinen Trikots widmet er ihr. Die Trauer ist groß, der Schmerz unfassbar. Doch Müllers Wille, das Leben zu meistern ist größer.

„Mein Vater, ein sehr interessanter Mensch mit einem bewegten Leben, war unter anderem in der Fremdenlegion. Das gibt eigentlich schon genug Stoff für einen Bestseller“, sagt Müller und muss  selber grinsen. „Vieles von damals ist für die Außenwelt so nicht zu verstehen, aber mein Vater war mein Ein und Alles.“

Der Vater fährt nachts Taxi, der kleine Moritz ist oft alleine zu Hause. Die älteren Geschwister zerstreut es. Müller erzählt: „Das alles haben wir unterschiedlich verkraftet. Ich war einfach jünger und habe es  alles nicht so verstanden. Mein Vater und ich waren dann plötzlich auf uns alleine gestellt.

Dann kommt die Liebe zum Eishockey in ihr Leben. Der Papa ist schon immer sportbegeistert. Jetzt fängt er an, hobbymäßig dem Puck hinterher zu jagen. Und macht parallel den Trainerschein. Auch Moritz nimmt er mit aufs Eis. Doch Struktur ist keine da. „Als ich neun war hat er gesagt:  ’Es reicht jetzt mit Frankfurt, wir wandern aus.’“

Moritz Müller lebt drei Jahre in Frankreich

Frankreich. Drei Jahre im Elsass. Mitten in den Vogesen. Eishockey?  Höchstens einmal die Woche. Vom Profi-Traum gar nicht zu reden.

Mit 12 ging es für Moritz und seinen Vater zurück nach Kassel, da war ein Teil der Familie. Weitere drei Jahre verbringt der Junge dort. Und mit 15 Jahren macht es plötzlich klick bei ihm: „Ich habe gemerkt, dass ich unbedingt etwas machen muss,  was eigenes. Zu Hause war es einfach ein bisschen wild.“

Ein Mannschaftskollege von den Kassel Huskies, Tobias Schwab, berichtet von einem Probetraining in Weißwasser.  Das kommt wie bestellt. „Ich hatte ja nichts anderes vor im Sommer und bin mit“, erzählt Müller.

Im Training überzeugt er, darf bleiben – mit der Ansage: „Wir haben da eine Plattenbauwohnung und da ziehst du ein.“ Die WG-Kollegen: Ein Kanadier, Phil Greif. Und Johan Kustow, ein Russe. Müller erinnert sich: „Ich war 15, der Kandier 21, der Russe 19. Ich war sozusagen der kleine Bruder der WG. Die anderen haben mir alles Mögliche beigebracht, wie man Bratkartoffeln brät zum Beispiel. Das war eine coole Zeit.“

Emotionale Momente mit dem Vater

Doch emotional auch schwierig. „Mein Vater hat mich hingefahren nach Weißwasser. Das ist für mich im Nachhinein noch sehr traurig. Wir waren ein Team, wir haben intensiv Zeit verbracht zusammen, wir waren eins. Bei der Verabschiedung habe ich gemerkt, dass es schon emotional ist, weil ich ihn ja alleine zurück lasse. Ich war damals schon egoistisch, ich habe gespürt, dass ich meinen Weg gehen will. Er hat wohl auch gemerkt, dass es besser für mich ist, wenn ich mal etwas anderes mache. Ich war für ihn traurig, dass er nun alleine ist.“

Sein Vater hat ihm als Kind alles beigebracht fürs Leben – auch sportlich darf Moritz vieles ausprobieren, nicht nur Eishockey.

Diese Vielseitigkeit kommt Müller später zugute.

Erstes DNL-Tor gegen die Kölner Haie

In Weißwasser hat der 15-Jährige einen guten Einstand, gleich im ersten DNL-Spiel trifft er gegen die Kölner Haie. Doch er überwirft sich nach wenigen Monaten mit dem Trainer, „weil er mich in die dritte Reihe gesteckt hat.“

Im Fachmagazin Eishockey-News stolpert Müller über  eine Anzeige auf der letzten Seite: Die Kölner Haie (hier mehr über die neue Saison erfahren)um Nachwuchs-Boss Rodion Pauels bitten zum Probetraining.  Müller ist fest entschlossen. Und wie! In Weißwasser marschiert er zum Trainer: „Dritte Reihe spiele ich nicht, ich spiele ab  sofort in Köln!“  Das Probetraining ist noch gar nicht absolviert...

Müller packt sein Hab und Gut (eine Tasche Privates, eine Tasche Eishockey-Ausrüstung) und steht wenige Stunden später am Hauptbahnhof in Köln.

Sein Auftritt beim Kölner Probetraining: beeindruckend. Pauels meint: „Du kannst gerne bleiben, aber wir haben keine Infrastruktur oder ein Sportinternat. Du musst selber schauen, wie du über die Runden kommst.“  

Nebenbei jobbt Müller im Haie-Fan-Shop

Alleine durchkommen? Für Müller kein Problem. Egal wie, er will jetzt unbedingt Profi werden. „Ich hatte 400 Euro auf dem Konto. Die erste Nacht verbrachte ich in Köln in der Jugendherberge in einem Vierbettzimmer mit drei Japanern.“  Die Asiaten besuchen die Süßigkeitenmesse, versorgen Müller  mit  jeder Menge Süßkram. „Ich habe mich gefühlt wie der König, die hatten mir bergeweise dagelassen. Von der ganzen Scheiße habe ich mich ernährt.“

Das Geld geht ihm trotzdem aus. Den ganzen Tag hängt er am Trainingszentrum der Haie in Köln-Deutz ab.   Als er rumläuft, entdeckt er das Boarding-House hinter dem Trainingsgelände an den Schienen. Im Erdgeschoss ist ein Eishockeyladen beheimatet. Müller freundet sich mit dem Besitzer an – wenn kein Training ist, ist er im Laden. Müller erzählt: „Der Besitzer hatte einen Narren an mir gefressen und meinte, ich sollte mich mal schlaumachen. Im  Boarding-House seien ein paar  Appartements frei, normal nur für  Bauarbeiter.“

Erste Miete in Köln muss der Jung-Hai bar bezahlen

Müller bekommt wenig später sein erstes eigenes Zimmer in Köln. Miete: 300 Euro. Am 15. jeden Monats wird an der Zimmertür geklopft und bar abkassiert. Alles legal, aber eben cash.

Um die Miete zu stemmen, jobbt Müller nebenbei im Haie-Fanshop – 40 Stunden im Monat für 200 Euro. Und er hat seine Halbwaisenrente zuzüglich Kindergeld. „Da hatte ich am Ende des Monats sogar noch was übrig“, lacht er heute. Gegessen hat er  trotzdem nur Quatsch. Und das mit allen Tricks. „Den Süßigkeiten-Automat in der Trainingshalle hatte ich durchschaut. Wenn man Geld eingeworfen hatte und gleichzeitig die letzte Zahl eintippte mit der Geld-Zurück-Taste, kam Geld zurück und das Ding raus.“  Doch Müller wird vom Securitydienst erwischt.  „Ich bekam Hallenverbot – aber natürlich nur außerhalb der Trainingszeiten.“

Denn auf dem Eis will man den jungen Kerl im Kölner DNL-Team immer gerne sehen. Rodion Pauels legt ihm nahe, den Sommer über in Köln durchzutrainieren. Er zieht voll durch und  als Belohnung für die harte Arbeit darf er eine Woche mit den Profis trainieren.  Die anderen Jungspunde Kai Hospelt und Markus Kink sind bei der U20-Nationalmannschaft. Müller erinnert sich: „Das war natürlich ein Traum. Das war 2003, ich war 16 Jahre alt. Da habe ich mir die Lunge aus dem Leib gelaufen. Nach der ersten Woche haben sie dann gesagt, Du darfst noch eine Woche. Obwohl Kink und Hospelt zurück kamen. Das war klasse – also noch mal eine Woche Gas geben...“

EXPRESS-Reporter lüftet Vertragsgeheimnis

Dann kommt die Saisoneröffnung im Henkelmännchen. „Plötzlich kam ein EXPRESS-Reporter zu mir und sagte: Herzlichen Glückwunsch zur Förderlizenz. Ich schüttelte den Kopf, verneinte. Der Reporter bekräftigte, dass Trainer Hans Zach es ihm bestätigt hätte. Ich habe zu Zach rübergeschaut, und er hat mir zugezwinkert. So bin ich in den Profikader gekommen.“ Es folgen bis heute 786 DEL-Spiele im Haie-Trikot und 139 Länderspiele für Deutschland.

Eine atemberaubende sportliche Karriere findet bei Olympia 2018 mit der Silbermedaille ihren Höhepunkt. Müller ist heute ein gestandener Profi, der längst nicht mehr alleine durchs Leben schwimmt. Sein Vater ist unendlich stolz auf ihn. Und Moritz ist ihm, trotz aller Schwierigkeiten, unendlich dankbar. „Unser  Verhältnis heute ist richtig klasse.“ Mit Frau Nadja  hat Müller mittlerweile selbst zwei wunderbare Töchter.