Corona-KriseGesundheitsexperte Lauterbach gibt Fehleinschätzung zu

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SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach wollte einst Parteichef werden. Jetzt ist er als Epidemiologe ein gefragter Mann in der Coronakrise. Unser Foto vom 14. Mai 2020 zeigt Karl Lauterbach in einer Warteschlange bei einer Abstimmung im Bundestag in Berlin.

Berlin – Dieser Politiker polarisiert, aber offenbar nicht hier, im bürgerlichen Prenzlauer Berg. Kaum hat das Gespräch mit Karl Lauterbach unter schattigen Kastanien in einem Frühstücks-Lokal begonnen, kommt ein Vater mit seinem kleinen Sohn an den Tisch:

„Wir haben beide Asthma und sind damit Risikogruppe. Danke, dass Sie sich immer wieder für strenge Regeln einsetzen. Machen Sie weiter so.“ Und ein wenig später unterbricht ein etwa 50-jähriger Mann das Interview: „Schade, dass Sie nicht SPD-Chef geworden sind.“ „Liebenswürdig, oder?“

Vergnügt verputzt Karl Lauterbach seine salzlosen Spiegeleier. Während des Gesprächs klingelt immer wieder sein Smartphone. Journalisten wollen seine Meinung zu den aktuellen Infektionszahlen wissen, ein Fernsehteam bittet um ein Statement zum neuen russischen Impfstoff.

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Mehr Twitter-Follower als Jens Spahn

Der „Mann mit der Fliege“, der inzwischen gar keine Fliege mehr trägt, ist seit Monaten einer der gefragtesten Politiker. Er ist Dauergast in Talkshows, seinen Twitter-Nachrichten folgen 234.000 Menschen, womit er in der Spitzengruppe der Bundespolitiker ist. Jens Spahn, der Gesundheitsminister, hat lediglich 166.000 Follower. Anfang des Jahres sah die Lage für Lauterbach noch ganz anders aus.

Herr Lauterbach, Ihre Karriere schien am Ende. Für die letztlich erfolglose Kandidatur für das Amt des SPD-Chefs haben Sie Ihren durchaus prestigeträchtigen Posten als Vizefraktionschef für Gesundheitspolitik aufgegeben. War es das wert?

Ja, und ich bedauere diesen Schritt überhaupt nicht. Es war und ist mein Ziel, dass sich die SPD viel stärker als bisher für den Klimaschutz einsetzen muss. Wir haben die Tragweite des Klimawandels viel zu lange unterschätzt, ich auch. Die Politikergeneration, der ich selbst angehöre, hat in den vergangenen 30 Jahren einen wesentlichen Anteil daran, dass wir jetzt in Bezug auf den Klimawandel in dieser katastrophalen Situation sind.

Sie selbst sind allerdings Mediziner und eingefleischter Gesundheitsexperte, aber doch kein Klimapolitiker.

Klima und Gesundheit hängen eng zusammen. Die größte Bedrohung für die Gesundheit der Menschheit ist der Klimawandel. Mir ist in den vergangenen Jahren klar geworden, dass soziale Themen wie Gesundheit zwar wichtig sind, die Bewältigung des Klimawandels muss aber am Anfang stehen.

Bürgerversicherung oder Überwindung der Zwei-Klassen-Medizin bleiben wesentliche Ziele für mich, aber sie verblassen für die gesamte Gesellschaft im Vergleich zur Klimakatastrophe. Ich bin daher sehr viel grüner geworden, als ich das je in meinem Leben war.

Jetzt wird nun doch Olaf Scholz Kanzlerkandidat der SPD – der Mann, den Sie mit Ihrer Kandidatur verhindern wollten. Beißen Sie jetzt in die Tischkante?

Ich gehörte nie zu den Kandidaten, die nur angetreten sind, um Scholz zu verhindern. Wie gesagt, mir ging und geht es um einen radikalen Umbau der Parteiprogrammatik hin zum Klimaschutz. Wenn wir uns hier nicht weiter bewegen, könnten wir für eine ganze Generation vollkommen unwählbar werden.

Aber daran gemessen können Sie doch mit Scholz unmöglich zufrieden sein?

Er ist nicht nur die bessere Wahl im Vergleich zu anderen, die mit ihm in Wettbewerb gestanden haben. Jetzt ist er eine Idealbesetzung für uns. Scholz kann Kanzler, keine Frage. Er ist ein Profi. Und er ist kein Ideologe. Er steht rationalen Argumenten sehr offen gegenüber. Zwar hat er auch andere Schwerpunkte, aber er kennt die Bedeutung des Umweltschutzes sehr genau. Olaf Scholz hat mir inhaltlich in diesem Punkt nie widersprochen.

Sie haben damals den Ausstieg aus der großen Koalition gefordert. Wo stünden wir heute in Zeiten von Corona, wenn die SPD tatsächlich Schluss gemacht hätte?

Im Nachhinein hat es sich als Segen erwiesen, dass die Koalition nicht aufgelöst wurde. Sie arbeitet jetzt in der Pandemie hervorragend, nicht jeder Minister, aber wir als Team. Aber es war auch völlig unabhängig von Corona ein Fehler, den Ausstieg aus der GroKo zu verlangen. Für jemanden, der so lange wie ich in dieser Koalition gearbeitet hat, wirkte das wenig überzeugend, sondern lediglich taktisch.

Nach seiner erfolglosen Kandidatur verschwindet Lauterbach in der politischen Versenkung. Doch dann kommt die Pandemie. Er warnt immer wieder vor den Gefahren des Virus und plädiert für maximale Einschränkungen, um die Ausbreitung einzudämmen. Er argumentiert kenntnisreich, schließlich hat er gegenüber allen anderen Bundespolitikern einen entscheidenden Vorteil: Er ist Epidemiologe.

Warum haben Sie Epidemiologie studiert – ein sicherlich etwas trockenes Fach?

Ich wollte eigentlich Herzchirurg werden. Als Medizinstudent habe ich 1988 in San Antonio, Texas, in einem Krankenhaus für Arme gearbeitet und wochenlang nur operiert. So viele Stich- und Schusswunden habe ich vorher und nachher in meinen Leben nie wieder gesehen. Ein Streit an einer Ampel – und spätestens bei der nächsten Kreuzung gab’s eine Schießerei. Irre.

Außerdem haben wir viel an Herzen operiert, die durch Rauchen oder unbehandelten Bluthochdruck geschädigt waren. Ich habe es mir dann zur Angewohnheit gemacht, jeden Abend zu überlegen, wie viele der Eingriffe vermeidbar gewesen wären.

Und wie fiel die Antwort aus?

Neun von zehn. Mir wurde damit klar, dass man als Chirurg oft erst tätig wird, wenn es eigentlich schon zu spät ist. Man muss das Problem an der Wurzel packen. Deshalb habe ich mich dann für Vorbeugemedizin und Epidemiologie entschieden. Mit ihrer Hilfe kann man versuchen, den See trockenzulegen, anstatt ihn nur mit Teelöffeln auszuschöpfen.

Ist dieser Ansatz, unbedingt die Ursachen ausmerzen zu wollen, eine Erklärung für Ihre harte Haltung in Sachen Corona?

Da mag etwas dran sein, aber ich lasse mich nicht von irgendeiner Ideologie leiten. Ich versuche wirklich keine öffentliche Aussage zu treffen, die sich nicht durch seriöse wissenschaftliche Studien zum Coronavirus belegen lässt.

Dafür lese ich sehr viele Studien, jeden Tag meist bis 2 Uhr nachts. Und ich tausche mich darüber mit meinen amerikanischen und deutschen Kollegen aus. Ich bin zum Glück gut vernetzt.

Man hat dennoch den Eindruck, Sie verfolgen eine kompromisslose Mission.

Ich sehe mich als Schnittstelle zwischen Politik und Wissenschaft. Als Politiker habe ich es gelernt, komplizierte Dinge einfach zu erklären. Vielen Wissenschaftlern fällt das schwer. Nehmen Sie zum Beispiel diesen russischen Impfstoff.

Wenn man dazu befragt wird, kann man sich vortrefflich über die verwendeten Adenoviren auslassen. Ich aber sage: Das ist ein primitiver, schmutziger Impfstoff, der im Zweifel mehr Schaden als Nutzen bringt. Das versteht jeder.

Von Selbstzweifeln sind Sie nicht gerade geplagt.

In der Wissenschaftsszene wird genau beobachtet, wer sich wie äußert. Ich würde mich total blamieren, wenn ich durch eine Vereinfachung oder eine Zuspitzung fachlichen Unsinn erzählen würde. Ich überlege mir sehr genau, was ich wie sage.

Ihnen wird aber vorgeworfen, Sie würden zu wenig reflektieren, sondern nur noch agitieren.

Das ist falsch. Ich habe in der Corona-Pandemie bisher im Großen und Ganzen leider oft richtig gelegen. Mir kommt dabei auch meine Ausrichtung in der Epidemiologie zugute: Die meisten Kollegen sind auf ein Organ konzentriert oder sie sind sehr stark statistisch modellierend spezialisiert.

Ich habe mich immer für das Entstehen von Krankheiten in allen Organen interessiert, etwa bei der Demenz, bei Krebs oder Herzkrankheiten. Dieser breite Ansatz ist genau der, der jetzt gebraucht wird, schließlich greift Covid-19 alle Organe an.

Keine Fehleinschätzungen bisher?

Doch, klar. Ich hatte vor Geisterspielen beim Fußball gewarnt, weil ich befürchtete, dass sich die Fans dann massenweise vor den Stadien oder in Kneipen versammeln und unvorsichtig verhalten. Doch es lief glimpflich ab. Aber besser so als andersherum.

Als Schnittstelle zwischen Politik und Wissenschaft können Sie nur wirken, wenn Ihnen in der Regierung auch jemand zuhört. Ist das der Fall?

Mit meinen SPD-Kollegen bin ich ständig im Gespräch. Olaf Scholz, Manuela Schwesig oder Rolf Mützenich hören mir zu und lassen sich vieles im Detail erklären. Und Sie können davon ausgehen, dass meine Äußerungen auch von Minister Spahn oder Kanzleramtsminister Helge Braun sehr genau registriert werden. Oder ich telefoniere mit ihnen.

Brauchen wir einen grundsätzlichen Strategiewechsel bei der Corona-Bekämpfung?

Die jetzige zweite Welle ist davon gekennzeichnet, dass Neuinfektionen flächendeckend in ganz Deutschland auftreten, in allen Bevölkerungsschichten und allen Altersstufen. Deshalb sollten wir den Flickenteppich aus mal mehr, mal weniger schlüssigen Konzepten zum Beispiel bei den Schulen oder den Gesundheitsämtern wieder durch eine deutschlandweite, wissenschaftlich untermauerte und vor allem gut erklärte Strategie ersetzen. Am Beginn der Pandemie hat das vorbildlich funktioniert. Aber inzwischen ist das verloren gegangen. Das muss sich wieder ändern.

Was muss im Vordergrund stehen?

Ganz klar die Verhinderung von sogenannten Superspreader-Events. Sie können uns in ein gefährliches exponentielles Wachstum zurückbringen, wenn wir nicht aufpassen. Deshalb plädieren Christian Drosten und ich ja auch für einen Strategiewechsel bei den Gesundheitsämtern.

Statt jeden einzelnen Kontakt nachzuverfolgen, müssen sie sich darauf konzentrieren, ob Infizierte bei Feiern, Partys oder ähnlichen Veranstaltungen waren. Alle Teilnehmer müssen dann sofort in Quarantäne, wobei eine Woche reicht. Außerdem muss dafür gesorgt werden, dass die Corona-App richtig funktioniert.

Tut sie das nicht?

Viele Labore und Gesundheitsämter sind noch immer nicht elektronisch an das System angeschlossen. Es ist also nicht gewährleistet, dass positive Testergebnisse tatsächlich schnell genug zu den Infizierten kommen. Es ist fatal, dass das immer noch nicht klappt.

Wo gibt es noch Handlungsbedarf?

Wir müssen noch mehr testen. Und dazu brauchen wir dringend eine Zulassung sogenannter RT-LAMP-Tests, wie es sie schon in Großbritannien gibt. Das Ergebnis der Speichelschnelltests, die unter 10 Euro kosten, ist in der Regel schon nach 80 Minuten da, die Zuverlässigkeit ist mehr als ausreichend.

Zudem sollten wir dafür sorgen, dass insbesondere Risikogruppen N95/FFP2-Masken tragen. Zu Beginn der Pandemie waren sie rar und für das medizinische Personal reserviert. Aber die Zeiten sind glücklicherweise vorbei.

Wann rechnen Sie mit einem Impfstoff?

Ein sicherer, gut getesteter Impfstoff dürfte Anfang 2021 zur Verfügung stehen. Aber die wichtige Frage für die Bevölkerung ist, wann tatsächlich auch geimpft werden kann. Selbst die US-Amerikaner, die sich über ihr “Warp Speed”-Programm bestimmte Kontingente von mehreren Impfstoffkandidaten gesichert haben, gehen davon aus, dass sie bis Mitte 2021 erst jeden dritten Amerikaner, also 100 Millionen Menschen, impfen können.

Deutschland hat den Zugriff auf weniger Kandidaten und Kapazitäten. Wir schaffen bis Mitte 2021 vielleicht sogar nur, 20 Prozent der Bevölkerung zu impfen. Aber auch das setzt voraus, dass wir Glück haben und auf die richtigen Kandidaten gesetzt haben. Die ganze Bevölkerung dürfte erst im Laufe von 2022 durchgeimpft sein. Bis dahin ist noch eine sehr lange Zeit.

Wie kann man gewährleisten, dass auch die Entwicklungsstaaten schnell etwas abbekommen?

Da mache ich mir auch Sorgen. Die WHO hat aber gemeinsam mit der globalen Impfstoffallianz Gavi und der internationalen Organisation Cepi die Covax-Initiative gegründet, die auch ärmeren Staaten einen fairen Zugang zu Corona-Impfstoffen gewährleisten soll. Dahinter stecken Milliarden, die breit investiert sind. Es könnte sogar passieren, dass in ärmeren Ländern schon umfassend geimpft wird, während wir erst die Risikogruppen versorgen können. (rnd)