Düstere Prognose von Selenskyj-Mitarbeiter„Versuchen Sie mal, ihm das zu sagen“

Wolodymyr Selenskyj (Mitte) ist umgeben von Sicherheitskräften, während er im November 2022 einen Rundgang durch die damals zurückeroberte Stadt Cherson macht.

Wolodymyr Selenskyj (Mitte) ist umgeben von Sicherheitskräften, während er im November 2022 einen Rundgang durch die damals zurückeroberte Stadt Cherson macht.

Das renommierte „Time“-Magazine hat eine umfangreiche Recherche zum Krieg in der Ukraine, zu Wolodymyr Selenskyj, seinen unentwegten Bemühungen um internationale Unterstützung, aber auch zu seinem Kampf gegen die aufkommende Kriegsmüdigkeit veröffentlicht. Darin kommt auch ein anonymer Mitarbeiter zu Wort – mit einer düsteren Prognose. 

von Martin Gätke (mg)

„Niemand glaubt so an unseren Sieg wie ich. Niemand.“ Mit diesem eingängigen Selenskyj-Zitat wirbt „Time“ für seine umfangreiche Reportage aus Kyjiw und Washington, zwanzig Monate nachdem Putins Armee die Ukraine überfallen hat.

Eine Reportage, die einen erschöpft wirkenden Selenskyj begleitete, als er die USA besuchte. Erschöpft nicht nur deshalb, weil er nun im zweiten Jahr ein Land führt, das sich im Krieg mit einem mächtigen Aggressor befindet. Sondern auch, weil er seit Kriegsbeginn unaufhörlich um Unterstützung, Waffen, Geld kämpft. Eine Unterstützung, welche die Ukraine dringend zum Überleben benötigt.

Es erfordere alle Kraft, alle Energie, erklärt Selenskyj im Interview mit dem Magazin, um auch seine Verbündeten davon zu überzeugen, wie wichtig es ist, dass die Ukraine siegt.

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Krieg in der Ukraine: „Ein Teil der Welt hat sich daran gewöhnt“

Fest steht: Der Frontverlauf hat sich in den vergangenen Wochen und Monaten wenig bewegt, die erhofften Gebietsgewinne der ukrainischen Truppen bleiben hinter den Erwartungen zurück. Noch hält die ukrainische Armee die Frontlinie, doch hat sie Berichten zufolge mit Materialmangel zu kämpfen. Russland habe mehr Ressourcen, mehr Munition, mehr Soldaten.

Zwanzig Monate nach Kriegsbeginn steht etwa ein Fünftel des ukrainischen Territoriums weiterhin unter russischer Besatzung, Zehntausende Soldaten und Zivilisten wurden getötet. Und Selenskyj spüre dem „Time“-Bericht nach auf seinen Reisen, dass das weltweite Interesse am Krieg nachgelassen hat. Ebenso die internationale Unterstützung. 

„Das Erschreckendste ist, dass sich ein Teil der Welt an den Krieg in der Ukraine gewöhnt hat“, sagt Selenskyj dem Magazin. „Die Kriegsmüdigkeit rollt wie eine Welle dahin. Man sieht es in den Vereinigten Staaten, in Europa. Und wir sehen, dass es für sie, sobald sie ein wenig müde werden, wie eine Show wirkt: ‚Ich kann mir diese Wiederholung nicht zum zehnten Mal ansehen.‘“ 

Krieg in der Ukraine: „Selenskyj ist wütend“

In den USA ist die öffentliche Unterstützung für die Ukraine seit Monaten rückläufig, wie Umfragen zeigen. Gleichzeitig besteht die Sorge, dass mit einem Sieg der Republikaner und mit einer Rückkehr von Trump ins Weiße Haus die Unterstützung gänzlich verloren geht.

In Kyjiw erklärt ein Mitglied aus dem engeren Kreis von Selenskyj gegenüber „Time“, dass der ukrainische Präsident wütend sei. Sein Optimismus, seine Art, sich trotz der bitteren Zeiten den Sinn für Humor zu bewahren, all das sei im zweiten Kriegsjahr verschwunden. „Jetzt kommt er rein, holt sich die Updates, gibt die Befehle und geht wieder raus“, sagt ein langjähriges Mitglied seines Teams. Ein anderer erzählt, dass Selenskyj sich vor allem von seinen westlichen Verbündeten betrogen fühle.

Ukraine: „Wir gewinnen nicht. Aber versuchen Sie mal, ihm das zu sagen“

Doch seine Überzeugungen haben sich nicht geändert, erklärt der anonyme Mitarbeiter weiter. Trotz der jüngsten Rückschläge auf dem Schlachtfeld habe er nicht die Absicht, seinen Kampf aufzugeben. Im Gegenteil: Sein Glaube an den Sieg der Ukraine über Russland habe sich in einer Form verfestigt, die einige seiner Beraterinnen und Berater beunruhigt. „Er macht sich etwas vor“, wird einer von Selenskyjs engsten Mitarbeitern zitiert. „Wir haben keine Optionen mehr. Wir gewinnen nicht. Aber versuchen Sie mal, ihm das zu sagen.“

Selenskyjs Sturheit im Hinblick auf den Sieg habe auch bei strategischen Entscheidungen geschadet, so der Mitarbeiter. 

Selenskyj indes lässt sich von seinem Siegeswillen nicht abbringen. Für ihn ist der Krieg in seiner Heimat auch zu einem Willenskrieg geworden, er selbst befürchtet, dass sich die Kämpfe über die Grenzen der Ukraine hinaus ausbreiten werden, wenn Russland in der Ukraine nicht gestoppt wird. „Ich habe lange mit dieser Angst gelebt“, sagt Selenskyj gegenüber, „Time“. „Ein dritter Weltkrieg könnte in der Ukraine beginnen, in Israel weitergehen und von dort nach Asien übergreifen und dann woanders ausbrechen.“ Das war auch seine Botschaft in Washington: Helfen Sie der Ukraine, den Krieg zu stoppen, bevor er sich ausbreitet und bevor es zu spät ist.