Nur ein WortVideo geht viral – Präsident Erdoğan muss ernsthaft um sein Amt fürchten

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hält eine Rede während einer Wahlkampfveranstaltung in Istanbul Mitte April.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hält eine Rede während einer Wahlkampfveranstaltung in Istanbul Mitte April.

Nur noch wenige Wochen, dann wählt die Türkei ihren Präsidenten. Kemal Kılıçdaroğlu ist der gemeinsame Kandidat der türkischen Opposition – und Herausforderer von Recep Tayyip Erdoğan. Nun wird ein Bekenntnis-Video von ihm zu einer viralen Sensation.

Lange wurde er kritisch gesehen, doch der Wind scheint sich gedreht zu haben: Kemal Kılıçdaroğlu, von vielen in der Türkei einst abschätzig als „Schlaftablette“ bezeichnet, als einer, der es niemals schaffen werde, fordert Recep Tayyip Erdoğan heraus. Am 14. Mai finden in der Türkei die Parlaments- und Präsidentenwahlen statt.

Nun, Wochen vorher, hat Kılıçdaroğlu mit einem Twitter-Video einen Sensationserfolg gelandet. Das Video, ein Bekenntnis, ging innerhalb von kürzester Zeit viral. Und kann als Tabubruch in der Türkei bezeichnet werden. 

Wahlen in der Türkei: Kılıçdaroğlu postet nur ein Wort zum Video

Zu dem Video postete der CHP-Politiker nur ein Wort: „Alevi“. Alevit. Kılıçdaroğlu bekennt in dem Video, der religiösen Minderheit der Aleviten anzugehören, erreichte damit Millionen Klicks. „Ich bin Alevit. (...) Unsere Identität macht uns zu dem, was wir sind“, sagte der 74-Jährige in dem in der vergangenen Woche veröffentlichten Video.

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Drei Minuten lang spricht er über die Schönheit seines Glaubens, Religion, die Hoffnung, dass das Land künftig nicht mehr gespalten wird durch verschiedene Identitäten. 

Hier das Video ansehen:

Kılıçdaroğlu stammt aus einer armen alevitischen Familie aus der Region Tunceli, beides gilt in der Türkei als Makel. Für türkische Nationalisten ist Tunceli eine kurdisch-alevitische Aufstandsprovinz, deren Menschen nicht zu trauen ist. Kılıçdaroğlu aber will zeigen, dass die Vorurteile haltlos sind.

Aleviten sind zwar eine Minderheit in der Türkei – aber sie gelten als zweitgrößte Religionsgemeinschaft im Land (nach sunnitischen Muslimen). Sie kämpfen seit Jahrzehnten um Anerkennung, beklagen bis heute Diskriminierung und Unterdrückung. In der Türkei hat ein bekennender Alevit noch nie ein hohes öffentliches Amt bekleidet.

Wahlen in der Türkei: Umfragen sehen Kılıçdaroğlu tatsächlich vorn

Das Video ging viral, erreichte schnell 30 Millionen Klicks. Weltweit habe sich kein Twitter-Video seit einer Aufnahme des Fußballspielers Lionel Messi 2022 so rasant verbreitet, hat „Spiegel“ herausgefunden.

Und nicht nur das: Die meisten Umfragen zur Türkei-Wahl sehen aktuell Kılıçdaroğlu tatsächlich vorn. Erdoğan muss anscheinend ernsthaft um sein Amt fürchten. Demnach wollen nur 17 Prozent der unter 25-Jährigen für die Regierungspartei AKP stimmen. Kein Wunder also, dass sich Kılıçdaroğlu in dem Video auch gezielt an Erstwähler wendet.

„Indem er über seine alevitische Identität spricht, zieht Kılıçdaroğlu Erdoğan den Boden unter den Füßen weg“, so analysiert Soner Çağaptay, Türkeiexperte am Washington Institute, das Video auf Twitter.

Die türkische Regierung jedenfalls reagierte auf das Video von Kılıçdaroğlu mit einigem Unverständnis. „Wieso sagt er das jetzt?“, fragte der türkische Innenminister Süleyman Soylu in einem TV-Interview. Zugehörigkeiten spielten keine große Rolle bei der Erlangung von Ämtern, so sein Argument. (mg)