Wahl-Krimi in der TürkeiNervenkrieg um Zahlen: Erdogan beansprucht „klare Führung“ – und zeigt sich bereit

Die Türkei hat über ihre Zukunft abgestimmt. Das erwartet knappe Rennen zeichnete sich frühzeitig ab. Was bedeutet das für die Türkei - und Europa?

In einer richtungsweisenden Wahl haben die Bürgerinnen und Bürger der Türkei über den Präsidenten und ein neues Parlament abgestimmt. Die Wahllokale schlossen am Sonntag (14. Mai 2023) um 17.00 Uhr (Ortszeit/16.00 MESZ).

Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan muss nach 20 Jahren an der Macht um seine Wiederwahl bangen. Umfragen hatten auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen ihm und seinem Herausforderer, dem Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu, hingedeutet. Und die Zahlen bestätigten dies. Beide Kandidaten stellen sich auf eine Stichwahl in zwei Wochen ein. 

Zoff um Wahl-Ergebnis: Es kommt wahrscheinlich zur Stichwahl

Am Abend hatte sich bereits ein Streit um das Ergebnis abgezeichnet. Dies dürfte auch die kommenden Tage bestimmen, denn staatliche Medien sahen den amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdogan vorne, während die Opposition mit ihrem Spitzenkandidaten Kemal Kilicdaroglu die Führung für sich reklamierte.

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Vorläufigen Zahlen der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu zufolge schrumpfte Erdogans Vorsprung im Laufe des Abends immer mehr. Laut türkischen Medien erzielte Erdogan nach bisheriger Hochrechnung am Montagmorgen auf knapp über 49 Prozent, Kilicdaroglu auf 45 Prozent – erforderlich für den Wahlsieg ist die absolute Mehrheit.

Aus der Opposition wurde der Vorwurf laut, dass es gezielt Anfechtungen von Ergebnissen durch das Regierungslager gebe. Ekrem Imamoglu, Bürgermeister von Istanbul und Parteifreund Kilicdaroglus, warf dem Regierungslager vor, die Zahlen zu manipulieren. Ihm zufolge begannen Regierungsvertreter, Ergebnisse in Hochburgen für die Parteien des Oppositionsbündnisses von Kilicdaroglu anzufechten.

Dies geschehe auch dort, wo seine Partei „deutlich“ vorne liege, sagte Imamoglu vor Journalisten. Zahlen des oppositionsnahen Nachrichtenportals Anka zufolge lagen Erdogan und Kilicdaroglu nach Teilauszählungen fast gleichauf - und beide unterhalb von 50 Prozent.

Erdogan sieht sich bei Präsidentenwahl „mit Abstand vorne“

Erdogan selbst sieht sich bei den Präsidentenwahl „mit Abstand vorne“. Bis die vorläufigen Ergebnisse veröffentlicht werden, werde es aber noch einige Zeit brauchen, sagte er noch in der Nacht zu Montag vor jubelnden Anhängerinnen und Anhängern in Ankara. Gleichzeitig hat er sich bereit für eine Stichwahl gezeigt: „Wir wissen noch nicht, ob die Wahl in der ersten Runde zu Ende sein wird, aber wenn die Menschen uns in eine zweite Runde schicken, werden wir das auch respektieren“.

Wahl in der Türkei: Das sind die vorläufigen Auszählungen

  • 03.26 Uhr Beim Stand von rund 95 Prozent der ausgezählten Wahlurnen im Inland und rund 37 Prozent im Ausland liege Erdogan bei 49,49 Prozent der Stimmen, sagte der Chef Wahlbehörde, Ahmet Yener, in Ankara am Montagmorgen (Stand 3 Uhr). Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu kam demnach auf 44,79 Prozent. Beide verfehlten damit die absolute Mehrheit von 50 Prozent und müssen am 28. Mai in eine Stichwahl gehen.
  • Präsident Erdogan äußerte sich inzwischen zur Wahl. Er nannte die Abstimmung ein „großes demokratisches Fest des Friedens und der Ruhe“. Von Manipulation sprachen dagegen die großen Oppositionsparteien CHP und die Grüne Linkspartei YSL.
  • 22.41 Uhr Anadolu meldete am späteren Abend mit Verweis auf fast 90 Prozent ausgezählte Stimmen einen Anteil von knapp unter 50 Prozent für Erdogan. Für den Staatspräsidenten lag der Anteil demnach bei 49,94 Prozent, für Kilicdaroglu bei 44,3 Prozent.
  • 22.11 Uhr Auch nach Auszählung von rund 89 Prozent der Stimmen sieht alles nach einer Stichwahl aus. Erdogan liegt bei rund 49,94 Prozent und damit unter der erforderlichen absoluten Mehrheit, wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu am Sonntagabend berichtete. Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu lag demnach bei 44,3Prozent.
  • 21.12 Uhr Recep Tayyip Erdogan liegt laut Staatsmedien nach der Auszählung von 75 Prozent der Stimmen nur noch knapp über einen absoluten Mehrheit. Der Amtsinhaber kommt demnach auf 50,8 Prozent, wie die staatliche Agentur Anadolu am Sonntagabend berichtete.
  • Die Opposition hat scharfe Kritik an den Zahlen von Anadolu geäußert und hält diese für nicht belastbar. Sollte kein Kandidat in der ersten Wahlrunde eine absolute Mehrheit erreichen, kommt es am 28. Mai zu einer Stichwahl.
  • Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu von der CHP und gemeinsamer Kandidat eines Sechser-Bündnisses lag laut der staatlichen Agentur bei rund 43,4 Prozent der Stimmen. 
  • Der Kandidat eines ultranationalistischen Parteienbündnisses, Sinan Ogan, lag laut Anadolu bei rund 5,3 Prozent. Muharrem Ince von der Vaterlandspartei hatte seine Kandidatur kurz vor der Wahl zurückgezogen, sein Name stand aber noch auf den Stimmzetteln. Er lag vorläufig bei 0,5 Prozent.
  • 19.41 Uhr Nach Auszählung von etwa der Hälfte der Stimmen kam Erdogan am Sonntagabend auf rund 52 Prozent, wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu meldete. Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu lag demnach bei rund 42 Prozent.
  • Die Staatsagentur veröffentlicht in der Regel zunächst die Auszählungsergebnisse in Erdogan-Hochburgen. Die ersten Daten lassen daher noch keine Rückschlüsse auf das Endergebnis zu.
  • 19.27 Uhr Oppositionskandidat Kemal Kilicdaroglu sieht sich in Führung. „Wir liegen vorne“, schrieb der Sozialdemokrat am Sonntagabend im Kurzbotschaftendienst Twitter.
  • Den vorläufigen Zahlen der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu zufolge liegt der amtierende Präsident Recep Tayyip Erdogan nach Teilauszählungen zwar mit rund 52 Prozent der Stimmen vor Kilicdaroglu mit 41 Prozent. Allerdings bezogen sich die Zahlen nur auf etwas über 40 Prozent ausgezählte Stimmen, die zudem überwiegend aus Hochburgen der Regierungsparteien stammten. Zudem schrumpfte der Vorsprung Erdogans den Anadolu-Zahlen zufolge im Laufe des Abends.
  • „Unsere Zahlen zeichnen ein positives Bild“, sagte ein Sprecher von Kilicdaroglus sozialdemokratischer Partei CHP. Die CHP werde ihre Zahlen veröffentlichen, sobald eine „bedeutende Anzahl“ der Wahlurnen geöffnet worden sei. 
  • 18.49 Uhr: Nach der Auszählung eines Viertels der Stimmen bei der Wahl in der Türkei führte staatlichen Medien zufolge Präsident Recep Tayyip Erdogan vor seinem Herausforderer, dem Sozialdemokraten Kemal Kilicdaroglu.
  • Nach Auszählung von 25,7 Prozent der Wahlzettel komme Erdogan auf 54,3 Prozent der Stimmen, der Oppositionsführer Kilicdaroglu auf 39,8 Prozent der Stimmen, wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu berichtete. Das Ergebnis kann sich aber noch deutlich ändern.

Wahl in der Türkei: 64 Millionen Bürgerinnen und Bürger wahlberechtigt

Die Wahl lief nach einer ersten Einschätzung der zuständigen Behörde ohne Probleme ab. Oppositionspolitiker meldeten kleinere Zwischenfälle aus verschiedene Provinzen. Rund 64 Millionen Menschen im In- und Ausland waren zur Stimmabgabe aufgerufen. In Deutschland waren rund 1,5 Millionen Menschen mit türkischem Pass stimmberechtigt.

„Wir haben die Demokratie sehr vermisst“, sagte Oppositionsführer Kilicdaroglu am Mittag bei der Stimmabgabe. Der „Frühling“ werde hoffentlich bald kommen, so der 74-Jährige unter Bezug auf einen möglichen Sieg bei der Wahl. Erdogan, der in Istanbul seine Stimme abgab, reiste am Nachmittag in die Hauptstadt Ankara.

Wahl in der Türkei: Erdogan mit so viel Macht wie noch nie

Seit der Einführung eines Präsidialsystems vor fünf Jahren hat der 69 Jahre alte Erdogan so viel Macht wie noch nie. Kritiker befürchten, dass das Land mit rund 85 Millionen Einwohnern bei einer Wiederwahl Erdogans vollends in die Autokratie abgleiten könnte. Auch international wird die Abstimmung in dem Nato-Land aufmerksam beobachtet.

Kilicdaroglu (74) ist Chef der sozialdemokratischen CHP und kandidierte für ein Bündnis aus sechs Parteien. Er verspricht eine demokratischere Türkei. Der dritte Kandidat, Sinan Ogan, hat keine Aussicht auf einen Sieg. Ein weiterer Herausforderer, Muharrem Ince, hatte sich aus dem Rennen zurückgezogen. Sein Name stand aber noch auf dem Wahlzettel und für ihn abgegebene Stimmen sollten mit ausgezählt werden.

Stichwahl in zwei Wochen, wenn keiner die absolute Mehrheit holt

Gewinnt keiner der Kandidaten in der ersten Runde die absolute Mehrheit, kommt es in zwei Wochen - am 28. Mai - zu einer Stichwahl des Präsidenten. Im Parlament hielt Erdogans islamisch-konservative AKP bislang eine Mehrheit im Bündnis mit der ultranationalistischen MHP.

Das Interesse an der Wahl war bereits am Morgen groß. Im konservativen Istanbuler Bezirk Üsküdar bildeten sich lange Schlangen, wie ein dpa-Reporter berichtete. Eine Frau mittleren Alters, die sich als Sevinc vorstellte, sagte, die Wahl sei das einzige Feld, auf dem das Volk seine Freiheit nutzen könne. Sie hoffe auf eine hohe Beteiligung. Der 57-jährige Fikret Koc sagte, er unterstütze den „Anführer“ Erdogan. Er habe die Türkei stark gemacht und vorangebracht.

Wahl in der Türkei: Kritik am Krisenmanagement nach Erdbeben

In den von Erdbeben betroffenen Provinzen wurde in Containern oder noch intakten Schulen abgestimmt. Nach den Beben in der Südosttürkei am 6. Februar mit Zehntausenden Toten war Kritik am Krisenmanagement der Regierung laut geworden.

Der Wahlkampf war angespannt und galt als unfair, vor allem wegen der medialen Übermacht der Regierung. Bestimmendes Thema war die schlechte wirtschaftliche Lage mit einer massiven Inflation. Erdogan versprach unter anderem eine Anhebung von Beamtengehältern und weitere Investitionen in die Rüstungsindustrie. Er führte eine aggressive Kampagne und beschimpfte die Opposition als „Terroristen“. Ein beliebter Oppositionspolitiker war nur eine Woche vor der Wahl mit Steinen beworfen worden. Kilicdaroglu trug am Freitag bei einem Auftritt in der Erdogan-Hochburg Samsun eine kugelsichere Weste.

Erdogan-Herausforderer Kilicdaroglu gilt als besonnener Politiker

Kilicdaroglu gilt als besonnener Politiker. Er stammt aus der osttürkischen Provinz Tunceli und gehört der religiösen Minderheit der Aleviten an. Der Oppositionsführer will die Unabhängigkeit von Institutionen wie der Zentralbank wiederherstellen und die hohe Inflation in den Griff bekommen. Er steht für eine Wiederannäherung an Deutschland und die EU, aber auch für eine schärfere Migrationspolitik.

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Mit der EU und in der Nato sind die Beziehungen eisig, seitdem Erdogan den Putschversuch im Jahr 2016 als Vorwand für eine Einschränkung von Grundrechten nutzte und Oppositionelle und Journalisten inhaftieren ließ. Die EU legte Beitrittsverhandlungen und Gespräche über eine Erweiterung der bestehenden Zollunion auf Eis. Mit Kilicdaroglu kann das alles nur besser werden, lautet deswegen in Brüssel die vorherrschende Meinung.

Türkei-Wahl: Zurückhaltung bei der Ampel-Koalition

In der Ampel-Koalition gibt man sich auch hinter vorgehaltener Hand zurückhaltend. Selbst wenn das Bündnis von Kilicdaroglu gewinne, bleibe abzuwarten, wie sich die unterschiedlichen Partner inhaltlich zusammenfinden würden, ist zu hören. Dies gelte auch für die großen Themen wie die Haltung der Türkei zu Russland, die Durchsetzung von Sanktionen oder den Umgang mit den Flüchtlingen.

Erdogans islamisch-konservative AKP kam 2002 an die Macht. Ein Jahr später wurde Erdogan Ministerpräsident, seit 2014 ist er Staatspräsident. In seinen ersten Regierungsjahren galt er als Reformer und sorgte für einen wirtschaftlichen Aufschwung. Viele seiner eigenen Reformen hat Erdogan inzwischen zurückgedreht. Die regierungskritischen Gezi-Proteste, die sich in zwei Wochen zum zehnten Mal jähren, ließ Erdogan niederschlagen. (dpa)