Sensation in der Türkei bahnt sich anDieser Mann könnte in wenigen Wochen Erdoğan stürzen

Kemal Kılıçdaroğlu (CHP) am 7. März 2023 bei einer Rede in Ankara.

Er soll die kritische Wahl gegen Recep Tayyip Erdogan gewinnen: Kemal Kılıçdaroğlu (CHP), hier am 7. März 2023 bei einer Rede in Ankara.

Am 14. Mai 2023 findet in der Türkei die Präsidentschaftswahl statt. Dem Land könnte ein epochaler Machtwechsel bevorstehen: Denn die Chancen von Sozialdemokrat Kemal Kılıçdaroğlu sind gut wie nie zuvor.

von Martin Gätke (mg)

Lange hat die Opposition in der Türkei nach dem richtigen Kandidaten gesucht, der Recep Tayyip Erdoğan stürzen könnte – nun hat sie ihn gefunden: Kemal Kılıçdaroğlu, der Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei (CHP), wird gegen den Mann antreten, der alle Register zieht, um weiter am Ruder zu bleiben. 

Kemal Kılıçdaroğlu (74), von seinen Anhängern „Gandhi“ genannt, scheint das Gegenkonzept zu Erdoğan zu sein: leise, um Kompromisse bemüht. 13 Jahre lang hat er sich mit seiner Art an der Spitze der Partei halten können, keine Selbstverständlichkeit. Nun aber steht er vor seiner größten Aufgabe: Erdoğan zu stürzen. Gelingt ihm das? Seine Chancen jedenfalls sind so gut wie lange nicht mehr.

Türkei: Erdoğan steht in der Kritik wegen Wirtschaftskrise und Erdbeben

Die Türkei durchlebt eine ernste und langanhaltende Wirtschaftskrise, die Inflation ging zuletzt zwar leicht zurück, liegt aber weiterhin bei 55 Prozent, die Mittelschicht des Landes verarmt. Das verheerende Erdbeben und das desaströse Krisenmanagement im Süden kommen hinzu, die Hilfe kam zum Teil verspätet in den betroffenen Provinzen an, Bauvorschriften wurden missachtet – Erdoğan steht zurzeit heftig in der Kritik, längst hat sein Ansehen gelitten.

Alles zum Thema Recep Tayyip Erdogan

Seit Monaten sind seine Umfragewerte im Keller. Nach mehr als 20 Jahren AKP-Herrschaft scheint es so, als hätte viele Türkinnen und Türken keine Lust mehr auf die Erdoğan-Partei. Der Präsident versucht mit aller Macht, im Amt zu bleiben, verteilt mit Steuergeld Wahlgeschenke, gibt Milliarden aus, um den Frust der Bevölkerung über die steigenden Preise und die schwache türkische Lira zu dämpfen. 

Politische Konkurrenten versucht die Regierung derweil mithilfe der Gerichte auszuschalten.

Türkei: Wird „Gandhi Kemal“ die Wahl im Mai gewinnen?

Die Chancen für CHP und für Kemal Kılıçdaroğlu scheinen also gut. Als „Gandhi Kemal“ wird er auch deshalb bezeichnet, weil er 2017 einen „Gerechtigkeitsmarsch“ von Ankara nach Istanbul – rund 400 Kilometer – lief, zusammen mit seiner Anhängerschaft. Eine Protestaktion, um auf die zunehmenden Repressionen durch die AKP-Regierung aufmerksam zu machen.  Hier bei unserer Umfrage zur Präsidentschaftswahl in der Türkei mitmachen:

Nicht nur sein Aussehen, auch seine Art soll an „Gandhi“ erinnern, heißt es – sowie seine Ruhe. „Die ruhige Macht“ und „Demokratischer Onkel“ sind weitere Kosenamen. Außerdem gilt er als der Politiker, auf den in der politischen Geschichte der Türkei die meisten Angriffe oder Attentate verübt worden sind – dazu zählt auch ein Lynchversuch 2019 in Ankara.

Doch obwohl sein Image so gut ist: Für viele ist er nicht charismatisch genug, um gegen Erdoğan zu gewinnen. Seine Kandidatur verursachte bereits jede Menge Uneinigkeit im Oppositionsbündnis mit sechs Parteien. Die zweitgrößte Partei, die nationalistisch orientierte Iyi-Partei, drohte die Runde zu verlassen, als der Name Kılıçdaroğlu feststand.

Doch nach vielen Verhandlungen steht nun fest: Kılıçdaroğlu wird kandidieren. Und der Mann, der 13. Präsident der Republik werden könnte, hat mit dem Niedergang der türkischen Wirtschaft und dem Ausmaß der Erdbebenkatastrophe eine gute Vorlage, das als Konsequenzen von Erdoğans Politik darzustellen.

Türkei ist zu einem „Ein-Mann-Staat“ geworden, sagt Kılıçdaroğlu

Die Türkei sei durch ihn zu einem „Ein-Mann-Staat“ geworden, sagte Kılıçdaroğlu im „Spiegel“. „Man kann keinen Archäologen in der Zentralbank anstellen. Man kann jemanden, der sich bestechen lässt, nicht zum Botschafter machen. Und man kann keinen Theologen beauftragen, Erdbebenschäden zu begutachten!“ All das habe Erdoğan gemacht.

Ob die Argumente reichen, wird sich im Mai zeigen. Denn fest steht auch, dass viele Türkinnen und Türken in Erdoğan weiterhin einen starken Anführer sehen. Trotz der Krisen ist längst nicht ausgemacht, dass Erdoğan die Wahl verliert – er wird alles daran setzen, sie zu gewinnen. Das Land ist nach zwei Jahrzehnten AKP extrem gespalten. Und bei landesweiten Wahlen hat Kılıçdaroğlu noch nie gegen Erdoğan gewonnen.

Ob er ein guter Präsidentschaftskandidat sein wird, ein ernsthafter Herausforderer Erdoğans, wird er also noch zeigen müssen. Immerhin deuten die ersten Umfragen vor der Präsidentschaftswahl auf einen Sieg des Oppositionskandidaten hin: Der Vorsprung des Herausforderers beträgt derzeit mehr als zehn Prozentpunkte.