Zorn auf die „Letzte Generation“Zynische Instrumentalisierung eines Verkehrsopfers birgt große Gefahr

Klimaaktivisten haben sich am Karlsplatz in der Münchner Innenstadt auf die Fahrbahn geklebt und blockieren die Straße.

Festgeklebte Klimaaktivisten am 3. November 2022 blockieren eine Straße in München.

Der Tod einer Radfahrerin in Berlin schockiert die Republik. Im Visier der Politik: Die „Klimakleber“ der Gruppe „Letzte Generation“. Doch die waren offenbar unschuldig. Es ist eine zynische und gefährliche Instrumentalisierung eines Verkehrsopfers, findet unser Autor in seinem Kommentar.

von Alexander Haubrichs (ach)

Nun ist es also traurige Gewissheit: Die 44-jährige Radfahrerin, die in Berlin von einem Betonmischer umgefahren wurde, ist tot.

Was nicht gewiss ist: Welche Rolle die Klimaaktivisten der „Letzten Generation“ dabei spielten, die weit von der Unfallstelle entfernt den Verkehr störten und zum Teil dafür verantwortlich sein dürften, dass ein Rettungswagen fünf Kilometer entfernt im Stau hängen blieb – auch weil das Gros der Autofahrer einmal mehr keine Rettungsgasse gebildet hatte.

Politiker instrumentalisieren Tod der Radfahrerin

Inzwischen sagen Notfallsanitäter aus Berlin, dass das „Eintreffen des Rettungswagens für die schwer verletzte Person keinen Unterschied machte“ und der Bezug zu den Klimaklebern der „Letzten Generation“  „an den Haaren herbeigezogen“ sei. Auch die Notärztin befand laut „Süddeutscher Zeitung“ am 4. November 2022, dass die Aktion der Klimaschützer keinen Einfluss auf die Versorgung des Unfallopfers gehabt habe.

Da hatten Politiker wie CDU-Generalsekretär Mario Czaja, CSU-Chef Markus Söder, Berlins Oberbürgermeisterin Franziska Giffey (SPD), und Justizminister Marco Buschmann (FDP) sie aber längst als Hauptschuldige ausgemacht: Die Klimakleber, die den Verkehr in der Hauptstadt stören und damit die Rettungskräfte behindern würden. Sie gehörten bestraft, hinter Gittern, Forderungen werden laut, die Grünen müssten sich von der Umweltbewegung distanzieren.

Es ist geradezu zynisch: Jeden Tag stirbt irgendwo in Deutschland ein Radfahrer und trotzdem stemmen sich gerade diese Parteien gegen Maßnahmen für weniger Autoverkehr oder zum Schutz der Radler. So erzählte Giffey, die gerne Autobahnen mitten durch ihre Stadt baut, nach einem Besuch im inzwischen fortschrittlich fahrradfreundlichen Paris, sie sei „fast von einem E-Bike überfahren worden“ und sah sich in ihrer Fahrradskepsis bestärkt.

Niemand von diesen Politikern war zu hören, als zu Beginn des Jahres ein Autokorso sechs Stunden den Verkehr in Hamburg blockierte und Apothekenlieferanten und Rettungswagen behinderten – wegen zu hoher Spritpreise!

Aber kaum passt ein Opfer in die politische Agenda, nutzt man es aus, um gegen die Klimaaktivisten Stimmung zu machen. Dabei forderte der Klimawandel schon in diesem Sommer Zehntausende Hitzetote in Europa, machte durch Überflutungen Millionen in Pakistan obdachlos und lässt Kinder in der ganzen Welt verhungern.

Der Klimawandel ist die größte Bedrohung der Gesundheit unserer Zeit, warnten Forscher der Deutschen Allianz für Klima und Gesund (KLUG) gerade noch in der Bundespressekonferenz, wie hier im Video nachzuhören:

Das ist es, wogegen diese Jugendlichen kämpfen und sie haben längst erkannt, dass selbst die eindrucksvollen Proteste der „Fridays for future“-Bewegung ohne Konsequenzen verhallen. Kein Wunder, dass die Protestformen radikaler werden.

Gesellschaft begreift Dimension des Klimawandels noch nicht

Der UN-Generalsekretär schlägt Alarm? Es kümmert niemanden. Das Fenster, die Pariser Klimaziele noch zu erreichen, schließt sich in atemberaubender Geschwindigkeit? Wir reißen Lützerath trotzdem ab. Immer noch haben weite Teile der Gesellschaft offensichtlich nicht begriffen, welche Konsequenzen der Klimawandel für uns alle haben wird. Und es gibt reichlich mächtige Interessenten, die wollen, dass das genauso bleibt.

Es ist ein allzu simples wie gefährliches Mittel, die Klimaaktivisten jetzt zu kriminalisieren, damit über ihre berechtigten Anliegen niemand spricht, so diskutabel die Form des Protestes auch ist. Es gibt reichlich Stimmen, die keine Gelegenheit scheuen, nun den Volkszorn auf die jungen Menschen zu lenken, die längst ihre Fehler eingestanden haben.

Tod der Radfahrerin sollte nicht missbraucht werden

Für die Klimaaktivisten gilt: Der Protest darf stören, er muss es sogar, um Aufmerksamkeit zu erregen. Doch es dürfen keine Menschen zu Schaden kommen. Denn sonst erweist man der Bewegung und ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz einen Bärendienst.

Für die Gesellschaft aber sollte gelten: Wenn wir den Tod der Radfahrerin instrumentalisieren wollen, dann als tragisches Zeichen, dass wir mehr für sicheren Fahrradverkehr tun müssen – wenn nötig zulasten des Autos. Und nicht als billiges Argument, die Menschen gegen die Klimabewegung aufzuhetzen. Klimaaktivisten sollten wir nämlich eigentlich alle sein.