„Hitler von Köln“Aussteiger berichtet: „Haben heute Zustände, von denen Neonazis träumen“

Ein Mann hält auf unserem Archivfoto (2020) eine Reichsflagge bei einem Protest vor der russischen Botschaft hoch.

Ein ehemaliger Neonazi erklärt, warum er die Stimmung in Deutschland an einem Kipppunkt sieht. Ein Mann hält auf unserem Archivfoto (2020) eine Reichsflagge bei einem Protest vor der russischen Botschaft hoch.

Früher war Axel Reitz „Hitler von Köln“, dann stieg er aus. Und arbeitet nun in der Extremismusprävention. In einem Interview erklärt er, warum er die Stimmung in Deutschland an einem Kipppunkt sieht.

Er war über zehn Jahre lang eine zentrale Figur der Neonazi-Szene im Rheinland, von seinem dreizehnten Lebensjahr an war er dort nach eigenen Aussagen aktiv. Die Medien bezeichneten ihn als „Hitler von Köln“.

2012 stieg er aus, zog sich aus der Szene zurück. Heute hält Axel Reitz zum Beispiel Präventionsvorträge an Schulen, ist Referent beim Verein Extremislos e.V. Er kehrte dem Extremismus den Rücken. Und hat ein Buch herausgebracht: „Ich war der Hitler von Köln. Mein Weg aus der Neonaziszene und wie Extremismus effektiv bekämpft werden kann“.

In einem Interview erklärt er nun, warum er die Zustände im Land auch Jahre nach seinem Ausstieg so problematisch findet. 

„Wir haben heute Zustände in diesem Land, von denen ich als Neonazi nur hätte träumen können“

„Wir haben heute tatsächlich Zustände in diesem Land, von denen ich als Neonazi nur hätte träumen können“, erklärt Reitz gegenüber „Welt“.

Die extreme Rechte habe es geschafft, Einzug in den Diskurs zu halten und es gelinge ihr, immer wieder Grenzen zu verschieben. „Das muss man sich einmal vorstellen: Da spricht der Faschist Björn Höcke ganz offen von einer ‚erinnerungspolitischen 180-Grad-Wende‘ und fordert eine Säuberung Deutschlands von ‚kulturfremden‘ Menschen.“

Die Höcke-Rhetorik würde exakt dem ähneln, was er selbst in seiner Zeit als Neonazi gesagt habe. „Aber Höcke ist nicht irgendein Provinzkasper ohne politischen Einfluss wie ich früher. Er fährt erschreckend hohe Wahlergebnisse in Thüringen ein und ist eine prägende Kraft in der AfD“, so Reitz.

„Der Großteil der Bürger lässt sich von seinen Parolen zum Glück nicht verführen. Aber Vorsicht ist geboten!“, warnt er.

„Große Themen wurden von der Regierung nicht erfolgreich gelöst“

Derzeit liegt die AfD in Umfragen bei 18 bis 20 Prozent, will nach Angaben ihrer Parteivorsitzenden Alice Weidel bei der nächsten Bundestagswahl erstmals einen Kanzlerkandidaten aufstellen. Zum aktuellen Umfrage-Hoch erklärt der Aussteiger, dass es da nicht nur einen Grund für gebe. „Es herrscht große Unzufriedenheit in weiten Teilen der Bevölkerung. Mit den etablierten Parteien, den Medien, aber auch über den Zustand der Gesellschaft an sich.“

Große Themen wie Inflation, Wohnungsmangel, Energiewende seien nicht erfolgreich gelöst worden, es seien Entscheidungen gegen große Mehrheiten getroffen worden, etwa die Abschaltung der Atomkraftwerke. Reitz: „Die Politik hat verlernt, verbindlich und volksnah zu kommunizieren. Zum einen aus Angst vor dem politischen Gegner, aber auch aus einem mangelnden Vertrauen in die Mündigkeit der Bürger.“

Hier bei unserer Umfrage mitmachen:

Menschen wünschten sich mehr „Klartext“ in der Politik. „Stattdessen werden schwierige Themen schöngefärbt oder überhaupt nicht mitgeteilt.“ Die Kommunikation der Regierung versage. „Derzeit fühlen sich viele Deutsche alleine gelassen, unverstanden und schlimmstenfalls bevormundet.“

„Müssen die Werte unserer liberalen Demokratie hochhalten“

Für Reitz gehörten Themen wie zum Beispiel Gendersternchen nicht zu den drängendsten Fragen, die die Menschen umtreiben. „Das ist nicht nur ein Ärgernis, sondern auch ein Einfallstor für Extremisten, die hier an die Lebenswelt der einfachen Menschen anknüpfen können, indem sie eine ‚Gegenbewegung‘ versprechen.“

Der Aussteiger erklärt im Interview auch, wie auf diese Entwicklung nun reagiert werden sollte: Seiner Meinung nach sollte schon im Schulalter auf junge Menschen eingewirkt werden. „Und zwar zuerst einmal mit Medienkompetenz-Schulungen. Schon Kindern muss beigebracht werden, wie Medien funktionieren und welche Quellen vertrauenswürdig sind und welche nicht – und das bitte ganz ohne politische Indoktrination.“

Auch Extremismus-Prävention müsse vermehrt stattfinden, damit die Menschen verstünden, „wie Bauernfänger aus allen extremistischen Lagern mit falschen Heilsversprechen locken.“ Von der Politik wünsche er sich mehr Offenheit und Ehrlichkeit. „Wir müssen die Werte unserer liberalen Demokratie verstehen, hochhalten, wertschätzen, leben und gegen ihre Feinde verteidigen.“ (mg)