Erster Auftritt nach AmtszeitAngela Merkel ist „bedrückt“ und nennt Gründe für ihre Zitteranfälle

Es war der erste größere öffentliche Auftritt von Altkanzlerin Angela Merkel seit ihrem Ausscheiden aus dem Amt am 8. Dezember 2021. Sie sprach über ihre Russland-Politik, was ihr dabei bis heute „schwer im Magen“ liegt – und worin sie die Gründe für ihre zuletzt viel diskutierten Zitteranfälle sieht.

Ex-Kanzlerin Angela Merkel (CDU) stellte sich am Dienstag (7. Juni 2022, 20 Uhr) erstmals seit dem Ende ihrer Kanzlerschaft den Fragen eines Journalisten. Mit Spannung wurde unter anderem erwartet, wie sie sich vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges in der Ukraine über ihre Russland-Politik und ihr Verhältnis zu Präsident Wladimir Putin äußert.

Die 67-Jährige hat im Gespräch mit dem „Spiegel“-Reporter Alexander Osang laut Einladung zu „den herausfordernden Fragen unserer Gegenwart“ Stellung bezogen. Die Veranstaltung wurde vom Aufbau Verlag und dem Berliner Ensemble organisiert. Osang hat Merkel mehrfach porträtiert. Das Interview am Dienstagabend wurde vom TV-Sender Phoenix übertragen.

Hier können Sie noch einmal den Livestream zum Interview mit Angela Merkel anschauen:

Auf die Anfangsfrage, wie es der Ex-Kanzlerin geht, antwortet Merkel am Dienstagabend sichtlich gut gelaunt: „Heute geht es mir persönlich sehr gut. Ich freue mich auch, dass ich an diesem Ort sein kann. Insgesamt hab ich mir die Zeit danach [Anm. d. Red.: nach ihrer Amtszeit] natürlich anders vorgestellt. Mit dem 24. Februar 2022 ist eine Zäsur entstanden. (...) Ich hab freiwillig aufgehört als Bundeskanzlerin, das ist auch ein schönes Gefühl.“

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Sie betont aber: „Ich bleib natürlich auch ein politischer Mensch. Und deswegen bin ich natürlich, wie viele andere auch, bedrückt.“

Angela Merkel spricht über ihre Zitteranfälle

Für die erste Zeit nach ihrer Amtszeit hatte Angela Merkel laut eigener Aussage das Vorhaben, sich mehr zu bewegen und Bücher zu lesen, zu denen sie im Laufe ihrer beruflichen Karriere als Politikerin nicht gekommen war. Sie erzählt, dass sie nach ihrer Zeit als Bundeskanzlerin als erstes für fünf Wochen an die Ostsee gefahren war – alleine. „Ich hab den Tag richtig gut rum bekommen“, so Merkel lachend.

Langweilig sei ihr jedenfalls nicht geworden. Die Altkanzlerin gesteht: „Ich wusste ja gar nicht mehr, wie das ist.“ Keine Termine, keine Verpflichtungen, keine Öffentlichkeit.

Journalist Osang fragte kurz darauf nach den Gründen für Merkels öffentlich bekannt gewordenen Zitteranfälle. Die ehemalige Kanzlerin nannte in erster Linie eine große Erschöpfung nach dem Tod ihrer Mutter als Ursache, aber auch zu wenig Trinken habe das Zittern begünstigt – am Ende habe sie dann eine Angst vor ähnlichen Situationen entwickelt und einen Stuhl zur Hilfe genommen. 

Am Dienstagabend ging es natürlich auch um Putin und den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Bereits vor dem Ende ihrer Amtszeit habe Merkel gemerkt, „da passiert nichts Gutes“, wie sie Reporter Alexander Osang berichtete.

So habe sie spätestens beim G20-Gipfel Ende Oktober 2021 in Rom „sehr, sehr ernst genommen, was in der Ukraine passiert“, erinnert sich Merkel zurück.

Angela Merkel verurteilt Krieg gegen die Ukraine scharf

„Was ich mich natürlich gefragt habe, ist: Was hat man vielleicht versäumt?“, sagte sie am Dienstagabend in Berlin. „Hätte man noch mehr tun können, um eine solche Tragik – ich halte diese Situation jetzt schon für eine große Tragik – hätte man das verhindern können. Und deshalb stellt man sich, stelle ich mir natürlich immer wieder diese Fragen.“

Merkel: „Ich teile nicht die Meinung von Putin, aber es ist auch nicht gelungen, eine Sicherheitsarchitektur zu schaffen, um das [Anm. d. Red.: den Krieg] zu verhindern. Der Überfall auf die Ukraine findet keinerlei Rechtfertigung. Das ist ein brutaler Völkerrecht missachtender Überfall, für den es keine Entschuldigung gibt.“ 

Merkel betont, sie habe zwar nicht geglaubt, dass Putin durch den Handel gewandelt werden könne. Aber sie habe geglaubt, dass man wenigstens Handel mit Russland treibe, um im Kontakt zu bleiben, wenn es politisch nicht laufe.

Angela Merkel machte vor dem Hintergrund der aktuellen weltpolitischen Lage am Abend mehrfach klar, „volles Vertrauen in die jetzige politische Führung“ zu haben. Die Entscheidung, aufzuhören, sei für sie jedoch definitiv die richtige gewesen. „16 Jahre sind wirklich lange und deswegen musste innenpolitisch auf jeden Fall eine neue Regierung her.“

Eine Sache liege Merkel aber bis heute „schwer im Magen“: Im Juni 2021 hatte sich US-Präsident Joe Biden mit Putin getroffen. Zusammen mit Emmanuel Macron sei Merkel der Meinung gewesen, man müsse auch aus europäischer Sicht versuchen, mit Putin einen Dialog  zu finden. „Weil ich schon gespürt habe, dass das mit Minsk nicht gut läuft“, sagt Merkel.

In der EU habe es damals diesbezüglich aber keine Einigung gegeben. Merkel gibt zu, gedacht zu haben: „Jeder weiß, dass du bald weg bist. Jahre vorher hätte ich das vielleicht noch durchgeboxt.“

Schon die Annexion der Krim 2014 sei ein „tiefer Einschnitt“ gewesen, resümiert Merkel. Denn bei Putin zeige sich, so die Einschätzung der ehemaligen Bundeskanzlerin, eine „kontinuierliche Linie von Grenzüberschreitungen“.

„Ich glaube, dass wir Glück hatten, wie das 1989/1990 abgelaufen ist. Wir haben einfach einen sehr guten Moment der Geschichte abgepasst.“ Danach habe sich die Weltlage verdüstert. „Putins Hass und Feindschaft richtet sich gegen das weltliche demokratische Modell“, sagt Merkel. Sie machte an diesem Abend auch klar, dass sie trotz allem noch immer zur Abschaffung der Wehrpflicht stehe.

Ihre Russland-Politik: Angela Merkel macht sich keine Vorwürfe

Die ehemalige Kanzlerin mache sich aber keine Vorwürfe, was ihre Russland-Politik betrifft. So habe sie unter anderem immer das Gespräch mit Putin gesucht. „Ich habe es glücklicherweise ausreichend versucht, zusammen mit dem französischen Präsidenten. Das gibt mir eine gewisse Beruhigung.“

„Ich würde mich sehr schlecht fühlen, hätte ich gesagt ‚mit dem Mann brauchst du gar nicht zu reden‘“, Merkel weiter.

Sie werde sich daher auch nicht für ihre Russland-Politik entschuldigen. Denn nur weil Diplomatie nicht gelinge, sei sie deswegen nicht falsch, erläutert Merkel ihre Überzeugung.

„Wer bin ich heute? Ich bin Bundeskanzlerin a.D. Ich bin keine ganz normale Bürgerin“, stellt Merkel fest. Sie suche noch nach ihrem Weg. Die Ex-Kanzlerin bekomme viele Einladungen, möchte sich aber mittlerweile aussuchen, welche sie annehme. Zu einer Schlagzeile, die sie gelesen habe – „Merkel macht jetzt nur noch Wohlfühl-Termine“ – sagte sie „ja“. Angela Merkel bewies an diesem Abend viel Humor und brachte das Publikum vor Ort mehrmals zum Lachen. 

Angela Merkel will keine Einschätzungen „von der Seitenlinie“ abgeben

Angela Merkel hatte nach dem Desaster von Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet (CDU) bei der Bundestagswahl im September 2021 am 26. Oktober ihre Entlassungsurkunde erhalten. Sie war noch bis zur Vereidigung ihres SPD-Nachfolgers Olaf Scholz am 8. Dezember geschäftsführend im Amt.

Die CDU-Politikerin hatte damals für die Zeit nach Amtsende eine mehrmonatige Ruhephase und öffentliche Auszeit angekündigt. Zum russischen Angriff auf die Ukraine hatte sie sich in den vergangenen Monaten nur in wenigen schriftlichen Stellungnahmen geäußert.

Am vergangenen Mittwoch beendete Angela Merkel ihre öffentliche Zurückhaltung und hielt die Laudatio beim Abschied des langjährigen DGB-Chefs Reiner Hoffmann. Sie wolle als Bundeskanzlerin außer Dienst keine Einschätzungen von der Seitenlinie abgeben, sagte sie dabei.

Doch zu sehr markiere Russlands Einmarsch einen eklatanten Bruch des Völkerrechts in der Geschichte Europas nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Sie unterstütze alle entsprechenden Anstrengungen der Bundesregierung, der EU, der USA, der Nato, der G7 und der Uno, „dass diesem barbarischen Angriffskrieg Russlands Einhalt geboten wird“.

Angela Merkel: Das Verhältnis der Ex-Kanzlerin zu Wladimir Putin

Merkel hatte in ihrer Amtszeit stets Wert darauf gelegt, den Gesprächsfaden zu Wladimir Putin nicht abreißen zu lassen. Damit wollte sie ein Fenster für diplomatische Krisenlösungen offen halten. Im kleinen Kreis hatte sie keinen Zweifel über ihre Einschätzung Putins als kalten, berechnenden Taktiker gelassen, von dem sie wusste, dass sie auch mit Lügen zu rechnen hatte.

Angesichts der deutschen Abhängigkeit von russischen Energielieferungen wird Merkels Umgang mit der russisch-deutschen Gaspipeline Nord Stream 2 kritisiert. Inzwischen hat SPD-Kanzler Olaf Scholz das Projekt gestoppt.

Angela Merkel ist jetzt Fan von Hörbüchern

Schon Mitte Juli 2021 hatte Merkel bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Johns-Hopkins-Universität in Washington gesagt, sie wolle es nach Ende ihrer 16-jährigen Amtszeit langsam angehen lassen.

Sie wolle nachdenken, „was mich so eigentlich interessiert“. Merkel war seit 2005 Bundeskanzlerin und bei der Bundestagswahl am 26. September 2021 nicht noch einmal angetreten.

Nach Informationen aus ihrem Umfeld hat sich die Ex-Kanzlerin in den ersten Wochen nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt nahe Templin in der Uckermark entspannt, wo sie ein Haus hat, oder bei langen Spaziergängen an der Ostsee.

Dabei habe sie sich zu einem Fan von Hörbüchern entwickelt und genieße Klassiker wie Macbeth, die Tragödie von William Shakespeare. Bei einem Italien-Urlaub mit engen Vertrauten musste Merkel feststellen, wie sehr sie weiterhin im öffentlichen Interesse steht und keinen unbeobachteten Schritt tun kann.

Ihre nachamtlichen Termine wolle Merkel gezielt aussuchen, um den einen oder anderen Impuls zu setzen, heißt es. Dabei werde sie aber der neuen Bundesregierung nicht mit neunmalklugen Kommentaren das Leben schwer machen. Wer ihren Rat wolle, der bekomme diesen auch, aber intern.

Merkel hat viele Anfragen aus dem Wissenschaftsbereich für Gastprofessuren erhalten, diese aber bisher abgelehnt. Auch ein geplantes Buchprojekt mit ihren Memoiren dürfte noch mehrere Jahre in Anspruch nehmen.

Angela Merkel: Interview soll sanfte Rückkehr in die Öffentlichkeit sein

Der Auftritt im Berliner Ensemble gehört zum Plan Merkels für einen sanften Wiedereinstieg in die Öffentlichkeit. Hintergrund des Gesprächs ist ein 2021 im Aufbau Verlag erschienenes Buch mit dem Titel „Was also ist mein Land?“.

Darin sind drei Reden Merkels abgedruckt: Ihre Ansprache zum Tag der Deutschen Einheit 2021, die Rede vor der israelischen Knesset 2008 und Äußerungen zu ihrer Entscheidung von 2015, in der damaligen Flüchtlingssituation die deutschen Grenzen offen zu halten.

Beteiligungen Merkels an dem Buch gehen auf Wunsch der aus Ostdeutschland stammenden Altkanzlerin an die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Merkel hatte dann im zeitlichen Zusammenhang mit dem Erscheinen des Buches die Idee für das Theatergespräch mit einem Journalisten.

Angela Merkel: Mit ihrem TV-Auftritt will sie ein Zeichen setzen

Merkel will dem Vernehmen nach unbedingt den Anschein vermeiden, sie fühle sich als Neben- oder Schattenkanzlerin. Sie wolle zeigen, wie man als Altkanzlerin agieren könne, die anders als ihre Vorgänger Helmut Kohl (CDU) und Gerhard Schröder (SPD) nicht abgewählt worden, sondern freiwillig aus dem Amt geschieden sei.

Aufsichtsratsmandate wie Schröder etwa bei russischen Gaskonzernen will Merkel nach diesen Informationen nicht übernehmen. Gut möglich aber, dass es demnächst weitere öffentliche Auftritte bei Gesprächen mit Journalisten und auch wieder Interviews geben wird. (jba, dpa)