Angriff auf AtomkraftwerkWie gefährlich ist die Lage? Experten klären auf

Nach dem Angriff auf Europas größtes Atomkraftwerk in der Ukraine sind viele Menschen auch in Deutschland besorgt. Ein Experte klärt auf, ob uns Gefahr droht.

Auf dem Gelände der ukrainischen Atomanlage Saporischschja ist in der Nacht zum Freitag ein Feuer ausgebrochen. Zuvor war das Kraftwerk von russischen Raketen beschossen worden. Droht uns jetzt eine nukleare Gefahr?

Nein, sagt die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS). Sie sieht keine unmittelbare Gefahr eines Atomunfalls. Zwar sei das Gelände laut der ukrainischen Aufsichtsbehörde von russischen Truppen umstellt oder besetzt, sagte GRS-Abteilungsleiter Sebastian Stransky der Deutschen Presse-Agentur. Die Betriebsmannschaften würden jedoch in ihrem regulären Betriebsmodus arbeiten.

Ukraine-Krieg: Kraftwerk laut Aufsichtsbehörde in sicherem Zustand

„Zum jetzigen Zeitpunkt ist das Kraftwerk laut Aufsichtsbehörde in sicherem Zustand und wird entsprechend den Betriebsvorschriften durch die Betriebsmannschaft betrieben“, sagte der Abteilungsleiter Internationale Projekte bei der GRS. Dies habe die Behörde auch der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) gemeldet.

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„Wichtig ist, dass das Betriebspersonal in Ruhe arbeiten kann und regelmäßig im Schichtbetrieb ausgewechselt wird.“ Die gemeinnützige Gesellschaft GRS bezeichnet sich als „Deutschlands zentrale Fachorganisation auf dem Gebiet der nuklearen Sicherheit“. Sie gehört zu 46 Prozent der Bundesrepublik.

Ukraine-Krieg: Brand im Atomkraftwerk Saporischschja

Das Trainingszentrum, in dem ein Brand gemeldet worden war, befinde sich auf dem Gelände des Standortes in größerer Entfernung zu den Reaktoranlagen. Außerdem sei in der Nacht auf Freitag auf ein Nebengebäude des Kraftwerkblockes 1 geschossen worden. Es habe einen Treffer abgekommen und sei beschädigt worden, so die GRS. Sicherheitsrelevante Teile seien aber nicht betroffen.

Von den sechs Blöcken der Anlage sei derzeit nur einer, Block 4, am Netz. Dessen Leistung sei wahrscheinlich aufgrund des derzeit geringeren Strombedarfs in der Ukraine etwas gedrosselt worden. Die übrigen abgeschalteten Blöcke befänden sich im Abschaltbetrieb. In diesem Zustand müssten die Brennelemente dauerhaft nachgekühlt werden. „Die Wärme wird abgeführt mit den ganz normalen, dafür vorgesehenen Systemen.“

Alle sechs Blöcke befänden sich aus kerntechnischer Sicht in einem sicheren Zustand, betonte Stransky. Er ist Ingenieur für Kernenergietechnik und spezialisiert auf den in Saporischschja betriebenen Reaktortyp russischer Bauart.

Muss jetzt auch die deutsche Bevölkerung Vorkehrungen treffen?

Trotz der Entwarnung sind viele Bürger und Bürgerinnen besorgt. Wie gefährlich ist die Lage? Und muss jetzt auch die deutsche Bevölkerung Vorkehrungen treffen? Die wichtigsten Fragen im Überblick:

Wie groß ist aktuell die Gefahr von atomarer Strahlung für Deutschland?

„Radiologische Auswirkungen auf Deutschland sind nach dem Stand der verfügbaren Informationen nicht zu befürchten“, versichert das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) mit Stand Freitagfrüh auf seiner Webseite. Alle radiologischen Messwerte am ukrainischen Kraftwerk Saporischschja bewegten „sich weiter im normalen Bereich“. Das AKW ist knapp 1900 Kilometer Autofahrt von Berlin entfernt. Das BfS und das Bundesumweltministerium beobachten nach eigenen Angaben die Lage und informieren über neue Entwicklungen. Die beiden Behörden erklären zugleich, dass das „Ausmaß der Schäden“ in dem ukrainischen Kernkraftwerk bislang unklar sei. Außerdem sei die Informationslage schwierig: „Aufgrund der Lage sind nur wenige Informationen verfügbar und diese sind schwer zu überprüfen“, schreibt das BfS weiter auf seiner Webseite. Die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) sieht aktuell mit Blick auf die Atomanlage Saporischschja keine unmittelbare Gefahr eines Atomunfalls.

Was kann passieren, wenn ein Reaktor angegriffen wird?

Das kommt darauf an. Ein Beschuss der Anlage müsse nicht zwangsläufig zu einem kerntechnischen Unfall führen, sagt Atomtechnik-Experte Sebastian Stransky von der GRS. „Damit es zu einem solchen Unfall kommt, muss das Kühlsystem beschädigt sein.“ Die sicherheitstechnisch wichtigen Anlagen seien in geschützten Gebäuden untergebracht. „Sie würden einem Beschuss durchaus standhalten können, das hängt allerdings auch von der Schwere des Beschusses ab.“ Der Reaktor selbst werde von einer Stahlbetonhülle geschützt, der einen Absturz eines kleinen Flugzeugs aushalten könne. „Selbst wenn er beschädigt ist, bedeutet das nicht automatisch, dass es zu einem kerntechnischen Unfall kommt.“ Erst wenn dauerhaft der Strom ausfallen würde und das gesicherte Kühlwassersystem versagte und auch sämtliche Notstromaggregate ausfallen würden, würde es letzten Endes zu einem Ausfall der Nachkühlung kommen. Dies könne zu einer Kernschmelze führen.

Wie sicher sind die ukrainischen Kernkraftwerke?

Atomtechnik-Experte Stransky betont, dass in den vergangenen Jahren viel für die Erhöhung der Sicherheit in den ukrainischen Anlagen getan wurde. Weitere Nachrüstprogramme liefen. Die Ukraine habe nach dem Reaktorunglück im japanischen Fukushima freiwillig an einem Stresstest für die Kernkraftwerke in der EU teilgenommen. „Auf der Basis der Ergebnisse wurden Aktionspläne erarbeitet, in denen sicherheitserhöhende Maßnahmen verpflichtend festgeschrieben wurden.“

Wie gut lässt sich die Gefahr für Deutschland durch einen möglichen Angriff auf ein Atomkraftwerk in der Ukraine einschätzen?

Da es Angriffe auf Atomkraftwerke in der Geschichte bislang nicht gegeben hat, sind Prognosen schwierig und aktuell mit großer Unsicherheit verbunden. Eine solche Gefährdungslage sieht das Bundesumweltministerium aber aktuell nicht.

Was tun die deutschen Behörden aktuell?

Bundesumweltministerium und BfS befinden sich nach eigenen Angaben in einem sehr engen Austausch mit der ukrainischen Regierung, der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) und Experten auf der ganzen Welt. Soweit es Hinweise auf erhöhte Radioaktivität gebe, gehe das BfS diesen Hinweisen nach. Nach Angaben des BfS werden sämtliche Messeinrichtungen in Deutschland regelmäßig überwacht, darunter auch die Spurenmessstelle auf dem Schauinsland bei Freiburg.

Deutschland verfügt den Behördenangaben zufolge seit vielen Jahren über Instrumente zur Bewertung einer radiologischen Lage, beispielsweise über das Integrierte Mess- und Informationssystem IMIS, das beim Bundesamt für Strahlenschutz betrieben wird. Im Alltag liefern die circa 1700 Messsonden und weitere Messnetze laufend Daten über die Radioaktivität in der Umwelt.

Welche Vorkehrungen gibt es in Deutschland für den Fall von hoher Strahlenbelastung?

In Deutschland sind 189,5 Millionen Jodtabletten in den Bundesländern bevorratet. Sollte ein Ereignis eintreten, bei dem radioaktives Jod in der Luft zu erwarten ist, übernehmen die Katastrophenschutzbehörden die Verteilung der Tabletten in den möglicherweise betroffenen Gebieten. Die Einnahme von Jodtabletten schützt dabei ausschließlich vor der Aufnahme von radioaktivem Jod in die Schilddrüse, nicht vor der Wirkung anderer radioaktiver Stoffe.

Wie sollten sich die Bürger und Bürgerinnen in der jetzigen Lage verhalten?

Die Bevölkerung kann sich online über die Sicherheitslage informieren, unter anderem auf den Webseiten des Bundesumweltministeriums und des Bundesamts für Strahlenschutz. Wovon die Behörden aktuell dringend abraten, ist die anlasslose Einnahme von Jodtabletten. „Eine Selbstmedikation mit hoch dosierten Jodtabletten birgt erhebliche gesundheitliche Risiken, hat aktuell aber keinen Nutzen“, schreibt das BfS.

Was geschieht in Deutschland bei einem nuklearen Notfall?

Dann käme das radiologische Lagezentrum des Bundes zum Einsatz. Die Öffentlichkeit würde unmittelbar informiert und, sofern erforderlich, würden Handlungsempfehlungen herausgegeben. (dpa)