Bis heute ungeklärtWarum die „Estonia“-Katastrophe immer noch Rätsel aufgibt

Estonia

Die estnische Ostseefähre „Estonia“ im Hafen von Tallinn – die Bugklappe riss bei der Fahrt nach Stockholm ab.

von Maternus Hilger (hil)

Tallinn – Es war die schlimmste Schiffskatastrophe seit Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa. Vor 25 Jahren, in der Nacht auf den 28. September, versank die Fähre „Estonia“ auf ihrem Weg vom estnischen Tallinn ins schwedische Stockholm binnen kürzester Zeit in der stürmischen Ostsee.

Von den 989 Menschen an Bord des 1980 von der deutschen Meyer-Werft in Papenburg gebauten Schiffes starben 852 in den Fluten.

Waren die hohen Wellen, Schlamperei bei der Konstruktion der Bugklappe, Leichtsinn des Kapitäns oder gar ein Bombenanschlag schuld am Untergang der rund 157 Meter langen Fähre? Diese Fragen können bis heute nicht schlüssig beantwortet werden. 

Die „Estonia“ hatte bereits Verspätung

Es ist 19.17 Uhr, als die „Estonia“ am 27. September 1994 in Tallinn ablegt. An Bord: 989 Menschen – die meisten aus Schweden und Estland, aber auch Deutsche – und auf den Parkdecks Dutzende Lastwagen und Pkw.

Kapitän Arvo Andresson hat es eilig. Er hat schon 17 Minuten Verspätung. Volle Kraft voraus. Er jagt die „Estonia“ mit ihren knapp 24.000 PS starken Dieselmotoren durch die aufgewühlte und stürmische See, um pünktlich um 9 Uhr morgens in Stockholm zu sein.

Explosionen an Bord der Estonia

Stunden später, kurz nach Mitternacht – die meisten Passagiere liegen bis auf ein paar Nachtschwärmer in den Bars längst im Bett – erschüttert ein Knall das Schiff.

Überlebende sprechen später von mehreren Explosionen. Der Grund: Die Bugklappe ist weggerissen worden. Innerhalb weniger Minuten fluten Wassermassen das Schiff, das schnell Schlagseite bekommt.

Estonia_Überlebende_Hinterbliebende

Überlebende und Angehöriger der Opfer bei einer Trauerfeier in Tallinn.

Nur eine halbe Stunde dauert es vom ersten Notruf „Mayday“ um 0.22 Uhr, bis das gigantische, zehn Stockwerke hohe Schiff südöstlich der Insel Utö in den hohen Wellen versinkt. Die meisten Passagiere haben keine Chance, die „Estonia“ wird ihr nasses Grab.

Untergang der Estonia ist bis heute ein Rätsel

Von denen, die sich noch ins Freie retten können, sterben viele im kalten Wasser an Unterkühlung. Überleben werden nur 137 Menschen, die von den Rettern geborgen werden, die rund 40 Minuten nach der Katastrophe den Unglücksort mit Schiffen und Hubschraubern erreichen.

Warum die „Estonia“ unterging, ist bis heute ein Rätsel – und das, obwohl sich im Laufe der Jahre immer wieder ganze Heerscharen von Experten auf die Suche nach der Ursache des Unglücks machten.

Die ersten sind die Schweden, Finnen und Esten. Sie setzen sofort eine Untersuchungskommission ein, die schnell zu dem Schluss kommt, dass stürmische Wellen die Scharniere des Bugvisiers weggebrochen hätten und so massenweise Wasser ins Autodeck eingedrungen sei.

Illegale Waffentransporte an Bord der Estonia

Außerdem sei der Kapitän, der das Unglück nicht überlebte, viel zu schnell gefahren, heißt es. Möglich, dass es so war. Aber dann tauchen immer wieder neue Spekulationen und auch Verschwörungstheorien auf, dass es doch ganz anders gewesen – und die „Estonia“ Ziel eines Bombenattentates gewesen sein könnte.

So gibt 2004 ein hochrangiger schwedischer Zollbeamter zu Protokoll, dass die „Estonia“ wiederholt Militärelektronik und Waffenteile in geheimer Mission auf der Route Tallinn-Stockholm befördert habe. 

Stammten die Waffen aus ehemaligen sowjetischen Militärarsenalen in Estland, das sich 1991 für unabhängig erklärt hatte? Wer waren die Empfänger? Bekamen der russische Geheimdienst KGB oder die amerikanische CIA Wind davon?

Deponierte jemand Zeitbomben an Bord der „Estonia“, um die Waffengeschäfte zu unterbinden? Wer hätte ein Motiv gehabt?

Drogenschmuggel, Mafiosi und der KGB

Eine weitere Spekulation: Drogenschmuggel, bei dem sich Mafiosi ins Gehege gekommen sein könnten. Das zumindest legt ein Bericht eines Ex-KGB-Agenten namens „Felix“ nahe.

Ungereimtheiten gibt es zuhauf, aber keine stichhaltigen Beweise für einen Bombenanschlag. Ein 2000 in Hamburg eingeleitetes Ermittlungsverfahren wegen Terrorismusverdachts wird 2002 eingestellt.

Tauchgänge zur „Estonia“ sind verboten

Estonia_Bug

Geborgen wurde bislang nur die Bugklappe der Estonia.

Noch immer liegt das Wrack der „Estonia“ in rund 70 Metern Tiefe auf dem Grund der Ostsee. Geborgen wurde nur die Bugklappe. Ursprünglich, so wollte es die schwedische Regierung, sollte die Fähre sogar eingemauert werden, um die Totenruhe nicht zu stören. Doch der Betonsarg wurde nie gebaut, das Gebiet lediglich zur Sperrzone erklärt und Tauchgänge untersagt.

Gründe: Massive Bürgerproteste und Vorwürfe, dass mit dem Beton möglicherweise ein Verbrechen für immer vertuscht werden könnte. Viele Überlebende und Angehörige der Opfer glauben das ohnehin. Denn neue Ermittlungen gibt es bislang nicht. Auch Schadenersatzklagen verliefen im Sande.

Klagen der Betroffenen scheitern

Nach dem Unglück hatte die Reederei Estline zwar rund 130 Millionen Euro an Entschädigungen gezahlt, doch die Betroffenen pochten auf weitere Wiedergutmachung. Ohne Erfolg.

Im Juli erst wies ein Gericht in Nanterre bei Paris ihre Klage auf rund 41 Millionen Euro Schadensersatz gegen die Werft und die französische Prüfgesellschaft Bureau Veritas zurück, das die „Estonia“ als seetüchtig eingestuft hatte.

Beide haben stets eine Schuld am Untergang zurückgewiesen. So konnte bis heute niemand für den Tod von 852 Menschen vor Gericht zur Rechenschaft gezogen werden.