„Es gab keinen Krieg mehr“Kölnerin Helga: Ihre Geschichte geht unter die Haut

Ein Mädchen mit Schultüte

Die kleine Helga bei der Einschulung in der Kölner Grundschule an der Machabäerstraße.

Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg. An dem Tag wurde die Kölnerin Helga geboren. Sie erzählt im EXPRESS ihre bewegende Geschichte.

von Ayhan Demirci  (ade)

EXPRESS traf sie zum 70. und EXPRESS hat sie zum 80. Geburtstag getroffen: Wieder in der Bäckerei Merzenich am Chlodwigplatz. Und wieder heißt es im Sinne jenen Tages: Hurra, der Krieg ist vorbei. Und Hurra, Helga ist da!

Geboren am 8. Mai 1945, das Kölner Baby der Kapitulation und vor allem aber: Das Friedenskind aus der Kölner Südstadt. Herzlichen Glückwunsch und toi, toi, toi!

Kölnerin Helga: Sie wurde am 8. Mai 1945 geboren

Was für eine Geschichte – heute erzählen wir sie mit vielen bislang unerzählten Anekdoten aus dem Leben der Helga Angelika Pinar, geborene Klein. In interessanten Kapiteln.

Die Geburt: Helga Klein kam als Tochter von Lukas (geb. 1907) und Bertha Klein am 8. Mai 1945 in Gerbstedt in der Nähe von Halle/Saale (Sachsen-Anhalt) zur Welt. Die hochschwangere Mutter war aus Köln (das Ehepaar lebte in Ehrenfeld) im Zuge der Evakuierungen angesichts der Bombenangriffe und der anrückenden Invasionsarmee der Alliierten Anfang 1945 in den Osten Deutschlands gebracht worden.

Die Eltern: Lukas Klein war als Soldat in Frankreich im Einsatz, im Herbst 1944 war er auf Heimaturlaub in Köln – Liebe in Zeiten des Krieges, Baby Helga machte sich auf die Reise. Die Mutter, geborene Dahmen, entstammte einer Klettenberger Architekten-, der Vater einer Ehrenfelder Arbeiterfamilie. Er arbeitete vor und nach dem Krieg als Eisengießer bei der Firma Rentrop vormals Rheinische Walzmaschinenfabrik an der Vogelsanger Straße 278. Nach 1945 lebte die kleine Familie – Kleins bekamen noch einen Sohn – im Haus Hansaring 8, das den Krieg weitgehend unbeschadet überstanden hatte.

Helgas Familiengründung: Mit 19 Jahren verliebt sich die junge Frau in der Stammkneipe ihres Vaters, „Weißer Holunder“ an der Gladbacher Straße, in einen hübschen Arbeiter, Typ Gregory Peck. Der junge Mann arbeitet in den Pohlig-Werken in Mülheim. Er ist ein türkischer Gastarbeiter der ersten Stunde, sein Name ist Canan. Es war „Kismet“ (Schicksal, Fügung), wie Helga bis heute sagt.

Helga Angelika Pinar vor der Torburg am Chlodwigplatz

Helga Angelika Pinar vor der Torburg am Chlodwigplatz

Zusammen werden sie drei Söhne haben. Ihre Mutter ist gegen die Hochzeit, für den Vater ist klar: Die beiden lieben sich, es ist egal, wo er herkommt, „lass sie heiraten!“ Mit Stolz erzählt sie, wie ihr damaliger Freund eine Gruppe von fünf jungen Italienern, die ihr auf dem Ring frech Avancen gemacht hatten, zurechtgewiesen hatte. „Er hob die Faust in die Höhe und rief: Das ist meine Helga! Er war mein Held ...“ Auch ihren Vater verehrt sie bis heute, er sei ein freiheitsliebender Mensch und immer gegen die Nazis gewesen.

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Die gemeinsamen Jahre Helga Klein, jetzt Helga Pinar, zieht mit ihrer neugegründeten Familie, nachdem man zunächst mit den Schwiegereltern gemeinsam am Hansaring gewohnt hat, nach Zollstock. „Es war traumhaft, wir waren abenteuerlustig, es war eine sehr, sehr schöne Zeit“, erzählt sie. Sie hatte jetzt zwei Länder, zu denen sie sich zugehörig fühlte. Deutschland und ihr geliebtes Köln, die Türkei und deren Menschen und Kultur. Ihre Schwiegereltern hätten sie sogar lieber gehabt als die türkische Schwiegertochter. „Und zu Hause wurde demokratisch gekocht. Da gab es deutschen Gulasch und türkische Dolma, und die Kinder konnten sich immer was aussuchen.“

Sie bereiste Paris und London, oft alleine mit ihrer besten Freundin, die auch einen Türken geheiratet hatte. „In Köln gingen wir dreimal die Woche ins Kino“, sagt sie. Und es gab keinen Krieg mehr, der das Glück hätte zerstören können. Helga Pinar arbeitete als Hauswirtschafterin im Krankenhaus Weyertal.

Helgas Mann starb im Jahr 2002. Seit fünf Jahren lebt die Witwe in der Kölner Südstadt in der Nähe der Severinstraße. Sie freut sich über ihre Zusammenkünfte mit ihren Söhnen und vier Enkeln.

Helga und das Museum: Mit Hilfe ihres Mannes schaffte es Frau Pinar aus Köln auch die türkische Staatsbürgerschaft zu erlangen. Ihr historisches Geburtsdatum ist also auch im türkischen Pass verewigt. Den hat sie mit anderen Zeitzeugnissen dem Migrationsmuseum Domid überlassen.

Der behördliche Geburtsschein des Babys Helga Angelika Klein

Der behördliche Geburtsschein des Babys Helga Angelika Klein

Helgas Pläne: Helga Pinar sagt, sie sei sich selbst der beste Arzt. Die Knie würden zwar schmerzen, aber wenn sie mal längere Touren auf sich nehmen wolle, spreche sie den lieben Gott an, er möge es leichter machen, „und dann geht es auch“. Sie müsse aber aufpassen, sie stolpere häufig, Schwindel macht ihr zu schaffen. Ansonsten wirkt sie wie das blühende Leben. Dieses Jahr will sie noch nach Amsterdam und Istanbul. Regelmäßig fährt sie mit der Bahn zum Seniorentanz nach Bickendorf. Um einen Tanz bitten kann man sie aber nicht. „Ich tanze am liebsten alleine“, sagt sie.

Wenn heute an ihrem Geburtstag das Wetter schön ist, kommt ein Drehorgelspieler auf den Karl-Berbuer-Platz und Helga zieht ihr rotes Kleid mit weißen Punkten an und einen schönen Hut – „dann werde ich auf dem Platz einen Walzer tanzen.“