Umstrittener „Rund um Köln“-SiegDidi Thurau trickste Kölner kurz vorm Ziel noch aus

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Wie umstritten Didi Thuraus Sieg über Hermann Jungbluth war, spiegelte sich auch in den damaligen Schlagzeilen der Kölner Tageszeitungen wider.

von Florian Summerer (sum)

Köln – Zwei Männer rasen an diesem nasskalten Tag unter der Flamme Rouge hindurch, dem roten Wimpel, der den letzten Kilometer eines jeden Radrennens markiert. Es ist der 5. Mai 1974, in Köln findet die 60. Austragung des Radsportklassikers Rund um Köln statt.

Die beiden Radsportler haben anstrengende Stunden im Sattel hinter sich, sind bei empfindlicher Kühle unter zehn Grad, kräftigen Regenschauern und starkem Wind 175 Kilometer durch die Eifel gefahren.

Der eine ist Hermann Jungbluth, damals 24 Jahre alt, ein leidenschaftlicher Amateurfahrer aus Köln, der für den RSV Viktoria Lövenich in der NRW-Auswahl gestartet ist und nebenher Mathematik studiert. Er gewann das Rennen im Vorjahr mit seiner angriffslustigen Fahrweise souverän mit 45 Sekunden Vorsprung auf eine prominent besetzte Verfolgergruppe – nach einer atemberaubenden Alleinfahrt, die rund 18 Kilometer vor dem Ziel begann.

Und diese ungestüme Fahrweise zeigt er auch heute. Doch diesmal klebt an Hermann Jungbluths Hinterrad ein weiterer Fahrer: Es ist Dietrich „Didi“ Thurau aus Frankfurt-Schwanheim, erst 19 Jahre alt und doch mit 134 Siegen die große Hoffnung des deutschen Radsports. Auch er ist Amateur, hat aber Größeres vor: Er will Berufs-Sportler werden.

Das Rennen ist vom Start weg von zahlreichen Attacken geprägt, das fast 80 Fahrer starke Feld zerfällt schnell in drei Gruppen, deren Abstände sich stetig vergrößern. In der Spitzengruppe, die aus 24 Fahrern besteht, finden sich neben Hermann Jungbluth und Didi Thurau illustre Namen wie der damalige Querfeldein-Weltmeister Klaus-Peter Thaler und Peter Weibel, der im Jahr zuvor die renommierte Rheinland-Pfalz-Rundfahrt gewann und später als Bundestrainer den jungen Jan Ullrich bei seiner Weltmeisterschaft betreute. Auch Jan Smyrak aus Polen ist mit von der Partie – er war nach den Olympischen Spielen 1972 in München im Westen geblieben und hatte die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen.

Thurau bittet um Hilfe

Rund 20 Kilometer vor dem Ziel – in der Nähe von Erftstadt, wo er auch im Vorjahr erfolgreich attackiert hatte – greift Hermann Jungbluth an. Schnell fährt er einen Abstand zur Spitzengruppe heraus. Da löst sich ein weiterer Fahrer und fährt von hinten an den erfahrenen Jungbluth heran – Didi Thurau! Doch als der junge Frankfurter das Hinterrad von Hermann Jungbluth erreicht, scheint mit ihm irgendetwas nicht zu stimmen. Der Lövenicher mustert seinen Mitfahrer: Dietrich Thurau wirkt angeschlagen, erschöpft – er bittet um Hilfe. „Nimm mich mit, ich mach auch nichts“, soll er gesagt haben.

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Freude über das Rennen nur beim Veranstalter Artur Tabat (2. v. l.): Der Drittplatzierte Mario Sobottka (l.), der Zweite Hermann Jungbluth (r.) und Sieger Didi Thurau bei der Siegerehrung

Im Gespräch erinnert sich Hermann Jungbluth noch heute: „Es gab die Absprache: Ich sollte ihn mitnehmen, attackiere nicht und gewinne dann das Rennen. So etwas ist üblich gewesen.“ Tatsächlich: Auch ein zweiter Platz bringt Punkte auf dem Konto des Radsportverbandes, die zu Teilnahmen an internationalen Wettbewerben berechtigen.

Es gelingt Hermann Jungbluth mit Thurau im Schlepptau, den Vorsprung auf bis zu drei Minuten auszubauen – ein scheinbar sicheres Zeitpolster. Denn in der Verfolgergruppe dahinter sorgt Jungbluths NRW-Mannschaft für eine Tempodrosselung: „Als Hermann weg war, haben wir gebremst, und das hat auch fabelhaft geklappt“, berichtet Mannschaftskamerad Mario Sobottka später.

Kurz vorm Ziel verfährt sich das Duo

Doch kurz vor dem Ziel gerät der sicher geglaubte Sieg noch einmal in Gefahr. Auf der Vogelsanger Straße verpassen gleich fünf Ordner das Eintreffen des Führungsduos. Thurau und Jungbluth biegen falsch ab! Als die Veranstalter den Fehler bemerken, sollen sie auf dem Motorrad den beiden hinterhergefahren und sie auf den Irrtum aufmerksam gemacht haben, wie „Rund um Köln“-Organisator Artur Tabat sich heute noch erinnert. Jungbluth und Thurau kehren wieder auf die Rennstrecke zurück. Sie liegen jetzt nur noch anderthalb Minuten vor dem Feld.

Ein Traum zerplatzt

Ein Vorsprung, der auf den letzten 1000 Metern reichen sollte, um dennoch die beiden ersten Plätze unter sich auszumachen. Jungbluth glaubt an Thuraus Versprechen, nicht mehr anzugreifen. Doch der entscheidet sich anders und zerschmettert mit einem fiesen Antritt den Traum Hermann Jungbluths, seinen Vorjahressieg zu wiederholen. Fassungslos schaut der überrumpelte Lövenicher zu, wie Thurau über die Ziellinie schießt und vor Hunderten Zuschauern einen weiteren Schritt auf seinem Weg vom Schriftsetzer zum Profisportler macht. Jungbluth ist auch heute noch entsetzt: „Ich habe überhaupt nicht mehr reagiert. Ich rollte nur hinter ihm her, ohne Gegenwehr. Damit habe ich nicht gerechnet, dass einer da … ich habe einfach darauf vertraut, dass er sein Wort hält. Bin dann einfach nur über den Strich gerollt.“

Nach dem Rennen erzählt Didi Thurau der Zeitschrift „Radsport“: „Als wir ausgerissen waren, ist Jungbluth fürchterlich gebrummt, hat auch die meiste Führungsarbeit geleistet. Ich hatte ihm versprochen nicht mitzuspurten…“

Heute allerdings, 45 Jahre später, besteht Thurau im Gespräch für das Interview-Buch „Flamme Rouge“ darauf, nicht betrogen zu haben: „Tausend Meter vor dem Ziel gab es eine verwirrende Situation: Ein Streckenposten hat uns fast falsch geleitet. Ich habe das früher als Jungbluth erkannt und bin geradeaus gefahren. Es kann keine Rede davon sein, dass ich ihn linken wollte. Ich hätte wahrscheinlich auch so gewonnen, ich war absolut der Stärkste! Ich glaube nicht, dass der mich geschlagen hätte an dem Tag. Und Absprachen gab es schon mal gar nicht!“

Radprofis erzählen ihre Schicksalsmomente

Zum Mitfiebern – ungefiltert erzählt von denen, die dabei waren: Das Buch „Flamme Rouge – Nur noch 1000 Meter“ lässt Rennfahrer aus sechs Jahrzehnten zu Wort kommen: In ausführlichen Interviews erzählen Stars wie Freddy Maertens, Didi Thurau, Fabian Cancellara, Simon Geschke oder Gerald Ciolek ihre größten Momente und furchtbarsten Niederlagen: Covadonga, 22 Euro, ab 28. Juni im Handel (bei Amazon vorbestellbar*). 

Doch direkt nach dem Rennen schimpfte NRW-Auswahl-Trainer Hennes Junkermann über das unfaire Verhalten Thuraus: „Didi hat mir sogar bestätigt, dass er Jungbluth keinen Strich durch die Rechnung machen wollte!“ Radsportlegende und damaliger Bundestrainer Rudi Altig, der von dem gebrochenen Versprechen Kenntnis erhalten haben muss, verweigerte Thurau bei der Siegerehrung den Handschlag.

Doch Didi Thurau war nicht aufzuhalten: Im selben Jahr erhielt er den ersehnten Profi-Vertrag, verdiente dann 24.000 D-Mark im Jahr. 1977 gewann er fünf Etappen der Tour de France und fuhr 15 Tage im Gelben Trikot des Gesamtführenden. Hermann Jungbluth hingegen hakte das Rennen schnell ab, blieb Amateursportler und setzte sein Mathematik-Studium fort, um später IT-Chef bei einem Autozulieferer in Remscheid zu werden.

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