Sexualtherapeut weiß esLust auf Sex – wie das auch in langen Beziehungen klappt

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In vielen langen Beziehungen wird der Sex immer seltener.

  1. Am Anfang landen Paare dauernd miteinander im Bett, doch schon bald lässt die sexuelle Anziehungskraft nach.
  2. Soll man das so akzeptieren? Was passiert, wenn einer von beiden fremdgeht? Und könnten offene Beziehungen die Lösung sein?
  3. Der Sexualwissenschaftler und klinische Sexualpsychologe Christoph Joseph Ahlers spricht im Interview darüber, wie wichtig Sex für die Kommunikation ist.

Köln – Seit mehr als 20 Jahren untersucht, berät und behandelt der Sexualwissenschaftler Dr. Christoph Joseph Ahlers an der Berliner Charité und in seiner eigenen Praxis für Paarberatung und Sexualtherapie hunderte Einzelpersonen und Paare. Im Interview spricht er darüber, wie wichtig Sex für eine langjährige Beziehung ist und worauf Paare achten sollten.

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Dr. Christoph Joseph Ahlers ist Sexualwissenschaftler und Klinischer Sexualpsychologe.

Herr Ahlers, am Anfang einer Beziehung gehen Paare noch sehr häufig miteinander ins Bett und haben Lust aufeinander. Irgendwann lässt das einfach nach. Warum ist das so?

Christoph Joseph Ahlers: Sexualität ist nur der Schauplatz dessen, worum es eigentlich geht. In der Verliebtheitsphase haben Paare eine höhere Frequenz sexueller Kontakte, um überhaupt erst eine Beziehung herzustellen. Diese Beziehungsherstellung wird immer wieder wiederholt, um sich zu bestärken. In dieser ersten Phase geht es vor allem darum, dass der andere eine Projektionsfläche ist, die wandelnden Erfüllung all meiner Bedürfnisse. Das ist die rosarote Brille. Die resultierenden Hormonausschüttungen sind nicht die Ursache fürs Verlieben, sondern der Schmierfilm, auf dem die Beziehungsanbahnung läuft. Nach ein paar Monaten lässt die Wirkung der rosaroten Brille nach und die Person tritt als die hervor, die sie eigentlich ist.

Wann tritt diese zweite Phase ein?

Christoph Joseph Ahlers: Die akute Verliebtheitsphase klingt relativ schnell ab, die Phase der Beziehungsetablierung kann sich aber über einen längeren Zeitraum erstrecken. So lange, bis beide sagen: „Jetzt sind wir ein Paar und gehören zusammen.“ Ab diesem Punkt lässt die Notwendigkeit nach, sich die Vorhandenheit der Bindung durch sexuelle Übereinkünfte immer wieder bestätigen zu müssen, weil die Beziehung dann da ist. Darum kommt dann alles zur Ruhe. Es ist auch gut so, dass der psychosenahe Wahnzustand der ersten Verliebtheit wieder abklingt und das Leben weitergehen kann.

Bedeutet es also auch umgekehrt, dass die Beziehung stabil ist, wenn man nicht mehr andauernd miteinander im Bett landet?

Christoph Joseph Ahlers: Die Stabilität einer Beziehung lässt sich nicht an der Koitus-Frequenz ablesen. Viel aussagefähiger wäre da die Frage, wie oft die Leute knutschen. Und zwar nicht küssen mit geschlossenen Lippen, sondern knutschen. Gefragt zu werden, ob sie sich küssen, überrascht alle. Sexualwissenschaftlich betrachtet ist diese Frage aber valider für die Ermittlung der partnerschaftlich-sexuellen Beziehungsqualität, als die Interaktion zwischen Penis und Vagina.

Und, was antworten die Leute?

Christoph Joseph Ahlers: In langjährigen partnerschaftlichen Beziehungen wird in der Regel wenig geknutscht.

Was sind sonst die Probleme, die Sie am häufigsten hören, bezogen auf Sex und lange Beziehungen?

Christoph Joseph Ahlers: Die Hauptprobleme entstehen durch Kommunikationsstörungen. Niemand bringt uns bei, Beziehungen zu führen. Wir leben immer länger und sollen auf einmal mit einem Menschen alleine über drei oder vier Jahrzehnte alle körperlichen, seelischen und sozialen Bedürfnisse erfüllen. Dafür sind wir gar nicht gebaut und das lernen wir nicht. Darum murksen wir da alle rum. Manche haben Glück und kommen gut zurecht, viele nicht. Dann passiert es, dass zwei Menschen sich erst aus den Augen, dann aus dem Sinn und dem Herzen und darum schließlich auch aus den Händen verlieren. Die Partner leben sich auseinander, jeder macht sein eigenes Ding. Die Männer wandern aus in die sexuelle Selbstbetätigung und die Frauen bleiben mit sich zurück, weil sie über sexuelle Selbstbetätigung nicht so stark kompensieren können wie Männer. Die Sollbruchstelle ist dann die sexuelle Außenbetätigung, das heißt, einer von beiden hat einen anderen Sexualpartner. Wenn das auffliegt, kommt es zur Krise. In der Regel geht dem eine langjährige Beziehungsverwahrlosung voraus, zumindest eine Beziehungsunterlassung, anstatt einer Beziehungsführung.

Kann ein Seitensprung nicht vielleicht sogar helfen, einer eingefahrenen, als selbstverständlich betrachteten Beziehung wieder neuen Schwung zu geben oder sich noch einmal füreinander zu entscheiden?

Christoph Joseph Ahlers: Nein. Nicht der Seitensprung hilft, sondern die Auseinandersetzung, die er möglicherweise anstößt. Wenn er auffliegt, kann es zu der existenziellen Beziehungsfrage kommen: „Wer und was sind wir, wer und was sind wir nicht? Was bindet und was trennt uns? Was eint und was entzweit uns?“ Diese Fragen zu stellen und zu beantworten, führt zu der Beziehungsklärung, die dann die Chance in der Krise darstellt.

Sie kann zur Trennung und zur Konsolidierung führen, aus der man dann gestärkt hervorgehen kann, weil man sich als Paar wiedergefunden hat. Das ist dann ein produktiver Ausgang, der durch das Fremdgehen ausgelöst, nicht aber verursacht wird. Was nicht funktioniert ist, wenn derjenige, der sich nach außen gewandt hat, diesen Umstand längere Zeit durch Leugnung, Lügen und Täuschung verschleiert und dadurch die Beziehung vergiftet. Also nicht der triviale Umstand, dass irgendwer Sex mit jemand anderem hat, ist das Problem, sondern die Art und Weise des Umgangs damit. Das Quantum an Gift, das durch Lügen, Täuschen und Manipulieren in die Beziehung gelangt ist, wenn man den anderen sehenden Auges hintergeht. Das kann dazu führen, dass die Vertrauensebene der Beziehung so beeinträchtigt wird, dass das irreversibel ist.

Sollte man seinem Partner einen Seitensprung also sofort beichten?

Christoph Joseph Ahlers: Wenn das im Rahmen einer Paarberatung zum Thema wird, stellt sich in der Regel heraus, dass es nicht um Selbstzweck-Transparenz und kategorischen Seelenstriptease geht. Die moralische Vorstellung, man müsse seinem Partner alles eins zu eins mitteilen, was man denkt, fühlt oder tut, hilft niemandem weiter. Im Gegenteil ist es gesund, wenn jeder in einer Beziehung auch sein Privatleben und seine Geheimnisse hat. Aber in dem Moment, wo es relevant für das Vertrauensverhältnis des Paares wird, wo es darauf ankommt, ob man sich aufeinander und das Wort des Anderen verlassen kann, das ist die Stelle, an der man sich entscheiden muss, reinen Tisch zu machen oder nicht. Will man die Beziehung erhalten, helfen nur Offenheit, Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit.

Das bedeutet aber nicht, Auskunft darüber zu geben, mit wem ich wo in welcher Position Sex gehabt habe, sondern Auskunft darüber, wo ich in der Beziehung stehe. Es geht darum, ohne Relativierungen und Bagatellisierungen einzuräumen, dass sexuelle Außenkontakte stattgefunden haben. Schlüpferfarbe und Champagnermarke mitteilen zu müssen, trägt nicht das Geringste zur Krisenbewältigung bei. Im Gegenteil, der Austausch von irrelevanten Details der Außenkontakte suggeriert dem „Betrogenen“ kurzfristig Kontrolle, gefährdet aber langfristig die Verarbeitung und Bewältigung.

In der Beziehungsklärung nach sexueller Außenbetätigung geht es deshalb nicht um die Frage, wer was wo mit wem und wie getrieben hat, sondern um die Frage, was warum, seit wann im Inneren der Beziehung ausgeblieben ist.

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Haben Sie eine Meinung zu offenen oder polyamourösen Beziehungen? Es macht den Eindruck, dass dieses Modell heutzutage gängiger wird und diskutiert wird, ob das nicht vielleicht eine Lösung für Beziehungen mit einem eingeschlafenen Sexleben sein könnte.

Christoph Joseph Ahlers: Im Gegenteil. Das Konzept ist Teil und Aufrechterhaltung des Problems und nicht Teil der Lösung. Rückblickend kann ich nur sagen, dass ich in den letzten 20 Jahren meiner klinischen Arbeit noch kein Mehrpersonen-Gefüge gesehen habe, in dem alle Menschen tatsächlich glücklich und zufrieden waren.

In der Regel gibt es Personen, die darauf drängen, die Beziehung sexuell zu öffnen. Dabei geht es aber eigentlich nicht um Sexualität (was die Betreiber auch selbst für sich reklamieren), sondern um Selbstbestätigung, die durch sexuelle Fremdzuwendung generiert werden soll (was die Betreiber lieber nicht hören und sagen). Die Protagonisten dieser Systeme sind oft Personen mit geringem Selbstwertgefühl. Dieser Mangel soll kompensiert werden durch den Umstand, mit möglichst vielen Menschen sexuelle Kontakte haben zu können, weil das verarbeitet wird als Bestätigung des eigenen Selbstwertes.

In der Regel ist es der Mann, der darauf drängt, und die Frauen machen mit, weil sie den Mann lieben. Wenn ich dann in Einzelgesprächen nachfrage, kommen die Tränen und die Aussage: „Wenn’s nach mir ginge, bräuchten wir das alles nicht, aber er will das unbedingt und wenn ich nicht mitmache, lässt er mich fallen.“

Wenn man sich nach einer Beziehungskrise wieder füreinander entscheidet, kann es ja trotzdem passieren, dass man weiterhin sexuell keine Lust mehr aufeinander hat. Wie geht man damit um?

Christoph Joseph Ahlers: Lust auf Sex ist ein fiktionaler Mythos aus Hollywood. Es ist Quatsch, dass wir in partnerschaftlichen Beziehungen aus unserem Inneren hervorsprudelnd Lust auf Sex haben, insbesondere bei Frauen. Das heißt, die Vorstellung, ich sitze auf dem Sofa und gucke „Lindenstraße“, dann kommt der andere rein und in dem Moment muss in mir ein Feuerwerk der Erotik losgehen, ist eine Fehlvorstellung, die dazu führt, dass Menschen sich abhängig machen von der Frage: „Kribbelt was in mir?“ Kein Mensch braucht Lust auf Sex für eine erfüllende sexuelle Beziehung – der Appetit kommt beim Essen!

In Wahrheit geht es um die Frage, was Sexualität in einer Beziehung bedeutet. Da unterscheiden wir drei Funktionen: Fortpflanzung, Erregung und Kommunikation. Um Fortpflanzung geht es beim Thema Lust auf Sex nur, wenn ein Kinderwunsch vorliegt. Erregung ist in unserer Kultur ein Synonym für Sex, kann aber jeder alleine und auch mit einem Fremden erleben. Beides lässt sich auch als als Dienstleistung erwerben und für beides braucht man keine partnerschaftliche Beziehung. Allein die Kommunikationsfunktion von Sexualität lässt sich nur in echten Beziehungen erleben. Gemeint ist damit der Umstand, dass Sex die Möglichkeit bietet, sich mit einem anderen Menschen wechselseitig das Gefühl zu geben, in Ordnung zu sein. Das nackt zu tun, indem man sich anfasst, anguckt, streichelt und küsst, das ist die Kernfunktion von Sexualität in Beziehungen.

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Also sich einfach körperlich nah sein?

Christoph Joseph Ahlers: Eben nicht einfach, das kann man ja auch in der Sauna. Es geht um die Frage, ob eine sexuelle Berührung etwas bedeutet oder nicht. Anfassen ohne Bedeutung ist Porno! Nur, wenn es etwas meint, kann es mich berühren. Alles andere bleibt tätscheln und stimulieren. In dem Moment, in dem der andere mir etwas wert ist und ich ihm etwas sagen möchte, in der Sekunde wird Körperkontakt intim und sexuell, unabhängig davon, ob am Ende Orgasmen oder Babys dabei herauskommen.

Diese Kommunikationsfunktion ist der einzige Grund, warum wir Menschen noch Paare bilden. Wenn wir uns über lange Zeiträume nicht wahrgenommen, ernstgenommen und angenommen fühlen, und zwar auch körperlich, so gefährdet das die partnerschaftlich-sexuelle Beziehungsgesundheit und steigert auch das das Risiko, psychosomatischer Folgebeschwerden auszubilden.

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In partnerschaftlichen Beziehungen wollen wir gesehen, angefasst und gehalten werden. Aber: Niemand sagt und lehrt uns das, deshalb warten wir alle wie das Mädchen mit den Goldtalern mit ausgebreiteter Schürze drauf, dass Lust, Erregung und Intimität auf uns herunter regnen. Das wird nicht passieren! Und so sitzen die Paare, die schon länger zusammen sind, auf dem Sofa und fragen: „Na, hast du Lust?“ „Ne, du?“ „Auch nicht.“ „Aber wir haben auch schon so lange nicht mehr…“ Vielleicht gibt’s ne Tablette ...“. Lust auf Sex ist nicht die Voraussetzung für sexuelle Interaktion, sondern das Resultat partnerschaftlicher Kommunikation. Wenn wir nichts miteinander anzufangen wissen und auch nichts voneinander wissen wollen, dann entsteht eben auch keine Leidenschaft.

Das wird dann auch irgendwann anstrengend in den Köpfen oder? Noch eine Sache, die nach Job und Kindern erledigt werden muss.

Christoph Joseph Ahlers: Da wird Sex gedacht als Koital-Akrobatik. Und da hat keiner Lust drauf. Weil es in der Bedeutung total an dem vorbei geht, worum es eigentlich geht.

Kann man diese Bestätigung oder diese Beziehungskommunikation auch auf nicht-körperlicher Ebene erreichen?

Christoph Joseph Ahlers: Nein. Wir können Körperkommunikation nicht durch verbale Kommunikation ersetzen, allenfalls ergänzen. Das liegt daran, dass wir stammesgeschichtlich die längste Zeit unserer Existenz ausschließlich auf Körperkommunikation angewiesen waren, um Beziehung zu etablieren und aufrecht zu erhalten. Spracherwerb ist stammesgeschichtlich etwas ausgesprochen Junges. Sprache ist ein Abstraktionsprozess, der die Erfüllung unserer Grundbedürfnisse allein nicht gewährleistet. Ich kann meinem Partner tausendmal sagen, dass ich ihn super finde, wenn ich ihn nie anfasse und nie in den Arm nehme und letztendlich auch nicht mit ihm schlafe, dann ist das die Verlesung von Speisekarten gegenüber jemandem, der Hunger hat. Er wird nicht satt, dadurch, dass man ihm Speisekarten vorliest.

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Weiterlesen: In seinem Buch „Himmel auf Erden und Hölle im Kopf - Was Sexualität für uns bedeutet“ gibt Dr. Christoph Joseph Ahlers einen umfassenden und unterhaltsamen Überblick über das gesamte Spektrum sexueller Phänomene (Goldmann Verlag, 447 Seiten, 9,99 Euro).