Vor 50 Jahren begann der Prozess gegen die erste RAF-Generation. Autor und Regisseur Niki Stein erschuf dazu das Dokudrama „Stammheim - Zeit des Terrors“ (Montag 19. Mai, 20.15 Uhr, Das Erste). Gedreht wurde erstmals im Original-Zellentrakt. Auch die RAF-Terroristen erscheinen in völlig neuem Licht.
„Stammheim“-RegisseurNiki Stein: „Die RAF-Leute sind völlig andere Menschen, als man dachte“

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Niki Stein, Autor und Regisseur des ARD-Dokudramas „Stammheim - Zeit des Terrors“ zum 50. Jahrestag des Prozessbeginns, spricht im Interview über neue Erkenntnisse zur „Gemeinschaft“ von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhoff, die den Blick auf die RAF verändern. (Bild: Martin Kunze)
Wie lebten die bekanntesten Terroristen Deutschlands vor 50 Jahren im Stammheimer Gefängnis? Wie sprachen Andreas Baader, Ulrike Meinhof oder Gudrun Ensslin miteinander?
Am 21. Mai 1975 begann im eigens für den Prozess errichteten „Mehrzweckgebäude“ der JVA Stuttgart Stammheim der Prozess gegen die nach wie vor klangvollsten Verbrechernamen der deutschen Nachkriegsgeschichte. Oder waren sie etwa Märtyrer, wozu sie mithin stilisiert wurden?
Unglaubliche Geschichten rund um die Vorgänge in Deutschlands berühmtesten Gefangenentrakt
Autor und Regisseur Niki Stein („Rommel“) arbeitete für sein Dokudrama „Stammheim - Zeit des Terrors“ (Montag, 19. Mai, 20.15 Uhr, Das Erste, und ab 17. Mai in der ARD-Mediathek) eng mit dem RAF- und Stammheim-Experten Stefan Aust zusammen. Ein Gespräch über ganz neue Erkenntnisse zur RAF - mit unglaubliche Geschichten rund um die Vorgänge in Deutschlands berühmtesten Gefangenentrakt.

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Drehbuchautor und Regisseur Niki Stein (links) des Film „Stammheim - Zeit des Terrors“ während der Dreharbeiten. 50 Jahre nach Prozessbeginn gegen die RAF fanden sie - erstmals - an Originalschauplätzen in der Gefängnisanlage Stuttgart Stammheim statt. (Bild: SWR/Hendrik Heiden)
teleschau: Die Geschichte der RAF in Stammheim wurde schon zweimal verfilmt. Noch nie waren die Terroristen so unsympathisch wie nun bei Ihnen ...
Niki Stein: Ich glaube, man muss sich anschauen, auf welchen Quellen die Drehbücher basieren. An allen dreien war Stefan Aust als RAF-Experte beteiligt. Am Personal liegt es also eher weniger. Der Film „Stammheim“ aus dem Jahr 1986 von Reinhard Hauff basierte auf einer Mitschrift des Prozess-Wortlautes, aus dem ein Theaterstück wurde. Auf diesem basiert der Film. Und da ist man, glaube ich, so ein bisschen dem Duktus der RAF erlegen: schreiend, pöbelnd - so wurde die RAF damals dargestellt. Ulrich Tukur, der im ersten Film Andreas Baader spielte, sagte mir mal, das sei seine schlechteste Rolle gewesen.

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Besonders freundlich war man nicht zueinander bei der RAF, wie im ARD-Dokudrama „Stammheim - Zeit des Terrors“ zu sehen ist: Ulrike Meinhof (Tatiana Nekrasov) im Gespräch mit Gudrun Ensslin (Lilith Stangenberg) beim Hofgang in der JVA Stammheim. Den Film plus eine Doku produzierte das Erste zum 50. Jahrestag des Prozessbeginns. (Bild: SWR/Hendrik Heiden)
teleschau: Dann gab es den Film „Der Baader Meinhof Komplex“ von 2008. Starbesetzt mit Moritz Bleibtreu, Martina Gedeck und Johanna Wokalek als Terroristen-Trio ...
Stein: Diesen Film würde ich ein wenig herausnehmen, da er die gesamte Geschichte der RAF erzählt und ein Zeitporträt sein wollte. Die Stammheim-Zeit in den Zellen nimmt da viel weniger Raum ein. Ich war der erste Regisseur, dem die Tonbandmitschnitte der Prozesse als Quelle zur Verfügung standen. Die hätten eigentlich gelöscht werden sollen, sind aber vor ein paar Jahren in einem Putzschrank am Oberlandesgericht Stuttgart wieder aufgetaucht ...
„Es sind keine Schreihälse“

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Musikfan und (Rock)star hinter Gittern: Der Vollzugsbeamte Horst Bubeck (Moritz Führmann, links) führt Terrorist Andreas Baader (Henning Flüsloh) zu seiner Zelle in Stammheim. (Bild: SWR/Hendrik Heiden)
teleschau: Ergibt sich nach dem Hören der Bänder ein anderes Bild?
Stein: Sie hören Baader darauf erstmals sprechen. Meinhofs Sprache kannte man ja, die der anderen kaum oder gar nicht. Daraus ergibt sich ein völlig anderes Bild. Die RAF-Leute sind völlig andere Menschen, als man dachte. Sie reden beherrscht, kontrolliert, ironisch. Es sind keine Schreihälse. Das verändert den Eindruck von ihnen. Wir leiten die Art, wie die RAF-Mitglieder in den Zellen sprechen, aus deren Auftritten im Prozess ab. Was im Film gesagt wird, wurde bestimmt durch die Inhalte der Briefe und Kassiber, die sich die RAF-Leute zugesteckt haben. Darauf beruhen unsere Filmdialoge. Wir sind so nah dran an der Realität, wie man aufgrund der Quellenlage sein kann.

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Gudrun Ensslin (Lilith Stangenberg) soll beim beim Stammheim-Prozess aussagen. Von ihrem Zellentrakt zum Prozessgebäude war es nur ein kurzer Fußweg von 150 Metern. 50 Jahre liegt der Beginn der Verhandlungen nun zurück. (Bild: SWR/Hendrik Heiden)
teleschau: In welcher Sprache, welchem Tonfall haben die RAF-Gefangenen denn untereinander gesprochen?
Stein: In einer ziemlich harten, ja bisweilen gnadenlosen Sprache. Unter intensivem Einsatz des F-Wortes, was natürlich zeitgemäß war. Unsere Schauspielenden hatten anfangs Probleme damit (lacht). Aber es ist natürlich auch ein rebellisches Zeitbild, diese Sprache ... Das Unsympathische kommt durch den Inhalt des Gesagten. Das, was sie sich um die Ohren werfen, ist ziemlich hart. Vor allem der Umgang mit Ulrike Meinhof, die in der Gruppe fast schon gemobbt wurde. Die Dialoge im Zellentrakt sind entstanden aus den Nachrichten, den Kassibern, welche die Inhaftierten untereinander tauschten. Da haben wir inszeniert, was in der Realität geschrieben wurde.
„Es gab zwei Könige: Baader und Gudrun Ensslin“

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Autor und Regisseur Niki Stein (zweiter von links) bereitet eine Szene seines Films „Stammheim - Zeit des Terrors“ vor. Vorn im Bild: Schauspielerin Lilith Stangenberg als RAF-Terroristin Gudrun Ensslin. (Bild: SWR/Hendrik Heiden)
teleschau: Sieht man die Machtstruktur der RAF nun in einem anderen Licht?
Stein: Es gab zwei Könige. Das waren nicht Andreas Baader und Ulrike Meinhof, sondern Baader und Gudrun Ensslin. Die beiden verlangten totale Gefolgschaft und hatten im Grunde als einzige Waffe ihren Körper, den sie in den Hungerstreik zwangen. Sie mussten Märtyrer erschaffen, um ihre Anhänger draußen zu aktivieren. Mit dem Ziel, sie aus dem Gefängnis herauszuholen. Der erste Märtyrer, den sie erschufen, war Holger Meins. Er starb im November 1974 im Hungerstreik. Dann gab es im April 1975 den unfassbar brutalen Überfall auf die deutsche Botschaft in Stockholm. Danach brauchte die RAF eine neue Märtyrerin, weil ihr Kredit aufgebraucht war. Da hatten sich Baader und Ensslin Ulrike Meinhof ausgesucht. Als sie sich erhängte, begann der deutsche Herbst.

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Gudrun Ensslin (Lilith Stangenberg) wird in die JVA Stuttgart-Stammheim eingeliefert. Die wichtigen Köpfe der ersten RAF-Generation sitzen nun in Haft. Ab 21. Mai 1975 wird ihnen der Prozess gemacht. (Bild: SWR/Hendrik Heiden)
teleschau: Wie kann es eigentlich sein, dass viele Jahre später Tonbänder der Prozesse auftauchten?
Stein: Man hatte sich vor Prozessbeginn darauf verständigt, diese Tonbandaufzeichnungen zu machen. Gerade auch die Anwälte der RAF wollten das, um einen Beleg zu haben, was dort wirklich gesagt wurde. Allerdings war es nie so gedacht, dass die Aufnahmen für die Ewigkeit archiviert werden. Die Bänder wurden nach vielleicht zehn oder 20 Stunden Aufnahme transkribiert und wieder überspielt. Es ist reiner Zufall, dass nun Bänder auftauchten, die eben nicht überspielt wurden. Darunter auch eine Aufnahme vom Oktober 1975, wo Ulrike Meinhof darüber spricht, dass sie in der Gruppe isoliert ist und keine Möglichkeit hat, sich zu äußern. Baader und Ensslin hatten Angst, dass Meinhof die Gruppe ganz verlassen würde. Daher kam ihnen ihre Märtyrertat sehr gelegen.

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Ulrike Meinhof (Tatiana Nekrasov) kommt in der JVA Stuttgart Stammheim an. Die Ex-Journalistin wirkt in der Gruppe der übrigen Gefangenen etwas isoliert. (Bild: SWR/Hendrik Heiden)
teleschau: Hätte es sein können, dass Meinhof, wäre sie nicht durch Selbstmord gestorben, sich gegen die RAF gewendet hätte?
Stein: Ja, das hat schon Stefan Aust in seinen Büchern beschrieben. Die Aussage, die wir glücklicherweise nun auf Band haben, kann man als Hilferuf der Ulrike Meinhof begreifen. Ich finde, wenn man die Aufnahmen hört, bestätigt sich dieser Verdacht, den der Vorsitzende Richter damals vielleicht einfach nicht mitbekommen hat.
„Da will ich nicht rein, da spukt der Baader ...“

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Kriminalkommissar Alfred Klaus (Heino Ferch) besucht Gudrun Ensslin (Lilith Stangenberg) in ihrer Zelle. (Bild: SWR/Hendrik Heiden)
teleschau: Ihr Film ist eine radikale Abkehr vom Kino-Blockbuster „Der Baader Meinhof Komplex“, in dem man die RAF als Antihelden-Popstars inszeniert hat.
Stein: Ich habe mir den Film damals im Kino angesehen und war schon ein bisschen erschrocken. Er lief 2008, und da saß eine jüngere Generation im Kinosaal, welche die Taten der RAF teilweise feierte. Da hatte ich aus der Perspektive meines Jahrgangs, ich bin 1961 geboren, eine andere Erinnerung. Als dieses Projekt vom SWR an mich herangetragen wurde, hat mich vor allem die eigentümliche Situation im siebten Stock des Gefängnisses Stammheim interessiert. Die RAF-Insassen haben dort viele Freiheiten genossen. Aber wie lief das genau ab? In der Tat war darüber bisher noch nichts gemacht worden ...

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Der Kriminaler Alfred Klaus (Heino Ferch, links) war 1971 am Aufbau der „Sonderkommission Terrorismus“ beteiligt. Er legte einen „Baader-Meinhof-Vorbericht“ vor - das erste wichtige polizeiliche Dokument zum Thema. Der Vollzugsbeamte Horst Bubeck (Moritz Führmann) spielt jedoch die weitaus größere Rolle im Film von Niki Stein. (Bild: SWR/Hendrik Heiden)
teleschau: Sie durften in den Original-Räumlichkeiten drehen. Wie kam das überhaupt?
Stein: Ja, ein Wahnsinn - oder? Damit hätte ich als Allerletzter gerechnet. Es lag daran, dass dieser Zellentrakt stillgelegt und nicht mehr benutzt wurde. Während der älteren Filmprojekte war er noch ein ganz normales Gefängnis. Ich glaube, bis 2015 war dort ein Jugendgefängnis drin. Ich habe von den Justizvollzugsbeamten die Anekdote gehört, dass die Insassen sich oft beschwerten. Nach dem Motto: „Da will ich nicht rein, da spukt der Baader ...“. Dass wir im Original-Zellentrakt drehen durften, hat unheimlich viel gemacht mit den Schauspielern und auch der Crew.

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Jan-Carl Raspe (Rafael Stachowiak, links) spricht mit dem Vollzugsbeamten Horst Bubeck (Moritz Führmann) während des Hofganges. (Bild: SWR/Hendrik Heiden)
teleschau: Haben alle Schauspielenden in jenen Zelle agiert, in denen ihr Rollenvorbild einsaß?
Stein: Ja, genau so war es. Wir haben die Zellen auch so eingerichtet, wie sie damals waren. Übers Staatsarchiv lagen uns Fotos von damals vor. Nach der Todesnacht fotografierte man alle Zellen akribisch durch. Auch vorher gab es schon mal eine Fotodokumentation der Zellen. Mein Szenenbildner hat dies dann eins-zu-eins nachgebaut.
„Ein ganz normaler Selbstmord ist unwahrscheinlich aufgrund der Faktenlage“

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Höchste Sicherheitsvorkehrungen begleiteten ihren Weg: Gudrun Ensslin (Lilith Stangenberg) bei der Ankunft in der JVA Stuttgart Stammheim. (Bild: SWR/Hendrik Heiden)
teleschau: Andreas Baader hört in Ihrem Film viel und laut Pop und Rockmusik. Ist seine Schallplatten-Auswahl echt?
Stein: Ja, absolut. Auch seine Bücher, die dort stehen. Es existiert eine Inventarliste der Zellen vom Institut für Zeitgeschichte in Hamburg. Darüber kann man sich in Sachen Ausstattung informieren. Der Zellentrakt der RAF ist heute übrigens eine Ausbildungs-Etage. Auf der bringt man JVA-Beamten in spe bei, wie der Job, also der Umgang mit den Gefangenen, funktioniert. Es war am Ende trotzdem nicht einfach, dort zu drehen, denn das Gebäude ist nach wie vor ein funktionierendes Gefängnis. Als wir dort drehten, saß zwei Etagen unter uns der militärische Arm der Reichsbürger ein. Ich rechnete, ehrlich gesagt, stündlich mit einem Anruf, dass wir als Filmteam nun doch wieder rausfliegen.
teleschau: Lassen sie uns über den größten Stammheim-Mythos von allen reden. Gibt es neue Erkenntnisse darüber, ob die RAF-Terroristen Selbstmord begangen haben oder ob etwas anderes geschehen ist?
Stein: Die offizielle Theorie lautet nach wie vor: Sie haben sich selbst umgebracht. Was wir im Film ein bisschen anspielen, auch weil sich Stefan Aust sehr sicher ist: Man vermutet, die Zellen wurden abgehört. Dass die Gespräche der RAF mit ihren Anwälten abgehört wurde, weiß man schon lange. Das war ein Skandal damals, weswegen der Vorsitzende Richter zurücktreten musste. Dass die Zellen ebenfalls abgehört wurden, liegt nahe, denn der Staat war im Notstand. Die RAF hatte Schleyer entführt, und man musste mit allen Mitteln versuchen, etwas dazu herauszufinden. Wenn die Zellen abgehört wurden, hätte man es eigentlich hören müssen, wenn sich dort jemand erschießt oder erhängen will. Komisch war auch, dass sowohl Baader als auch Raspe zwischenzeitlich in neue Zellen verlegt wurde, weil ihre alten Zellen durchsucht wurden und sie trotzdem danach Schusswaffen hatten. Es sind schon ziemlich viele Ungereimtheiten, die rund um die Todesnacht passierten.
teleschau: Was glauben Sie denn, und was glaubt Stefan Aust, wie es gewesen sein könnte?
Stein: Wir verbieten uns, dazu etwas Klares zu sagen. Stefan sagt immer: „Mord wäre die bessere Geschichte, aber ich kann sie nicht beweisen“. Ich finde, wir sollten insgesamt weniger Staatsgeheimnisse haben. Vor allem nicht 50 Jahre nach diesen Ereignissen. Ich hasse Verschwörungstheorien und finde es bitter, dass wir rund um die RAF in Stammheim seit so vielen Jahren immer neue Theorien ertragen müssen. Leider gibt es so viele seltsame Zufälle rund um die Todesnacht, dass Verschwörungstheorien Tür und Tor geöffnet werden. Ein ganz normaler Selbstmord ist unwahrscheinlich aufgrund der Faktenlage. Doch selbst, wenn herauskäme, dass es ein begleiteter Selbstmord war, würde dies Deutschland auch 50 Jahre danach noch erschüttern. (tsch)