„Polizeiruf 110“Emotionaler Fall aus Rockstock: Kann eine Kommissarin zu empathisch sein?

Das Foto stammt aus dem Rostocker „Polizeiruf 110: Diebe“ und zeigt die Ermittlerinnen Katrin König (Anneke Kim Sarnau, l.) und Melly Böwe (Lina Beckmann, M.) im Gespräch mit der Drogenabhängigen Mascha.

Die Ermittlerinnen Katrin König (Anneke Kim Sarnau, l.) und Melly Böwe (Lina Beckmann, M.) bekommen es im „Polizeiruf 110: Diebe“ mit der Drogenabhängigen Mascha (Meira Durand, r.) zu tun. 

Wenn die Ermittelnden emotional involviert sind, endet das in TV-Krimis selten gut: Im Rostocker „Polizeiruf 110: Diebe“ geht der Kommissarin das Schicksal einer drogenabhängigen Mutter nahe, die unter Mordverdacht steht.

Nachfolger beliebter TV-Kommissare haben es selten leicht. Zwei Jahre sind vergangen, seit Alexander „Sascha“ Bukow im Rostocker „Polizeiruf 110“ den Dienst quittierte und damit seine Fangemeinde schockte. Für die Freunde des verschrobenen Norddeutschen dürfte es nur ein schwacher Trost gewesen sein, dass mit Lina Beckmann tatsächlich Hübners Frau dessen Nachfolge im ARD-Krimi antrat.

Drei Fälle hat die 42-Jährige nun bereits an der Seite von Urgestein Anneke Kim Sarnau aka Katrin König als Kommissarin Melly Böwe ermittelt – eine Figur, die zu allem Überfluss auch noch als Halbschwester ihres Vorgängers Bukow ins Drehbuch geschrieben wurde.

„Polizeiruf 110“: Ein trister Fall für Böwe und König 

Doch was helfen Verwandtschaftsgrade, wo doch eines der besten Krimi-Duos hierzulande kaum ersetzt werden kann? Bleibt nur eines: Böwe muss sich weiter als neue Kollegin etablieren – und sie tut dies in ihrem nun vierten Fall auch eindrücklich.

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Der neue „Polizeiruf 110: Diebe“ zeigt nicht nur die sozialen Abgründe der Hansestadt zwischen Armut und Reichtum, sondern auch eine emotional gefährlich involvierte Ermittlerin.

Loteten König und Böwe schon im letzten Fall die Verwerfungen einer traumatisierten Familie aus, begibt sich das Duo auch diesmal in familiäre Untiefen – abermals unter Regie des prämierten Krimi-Regisseurs Andreas Herzog.

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Er lässt in seinem nachdenklich stimmenden Film nach einem Drehbuch von Elke Schuch Professionelles und Privates zusehends verschwimmen. Vor der Kulisse eines entrückt inszenierten und tristen Vorstadt-Rostocks ermitteln die beiden Kommissarinnen im Fall einer toten Frau, die auf den ersten Blick auch einem tragischen Haushaltsunfall zum Opfer gefallen sein könnte.

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Bald jedoch weisen Spuren eines Einbruchs und die Untersuchungen der Gerichtsmedizin eindeutig auf Mord hin.

Wer hat die ältere wohlhabende Frau in ihren eigenen vier Wänden getötet? Kommt der wesentlich jüngere Ehemann (Michael Stange) infrage, der sich übertrieben unschuldig verhält und das Vermögen der Dame im Blick gehabt haben könnte? Oder steckt der ominöse Immobilienfonds des zwielichtigen Kai Schopp (Robin Sondermann) dahinter, der offensichtlich Seniorinnen über den Tisch zieht?

„Bei Junkies fang' ich mit Vertrauen gar nicht erst an“

Die Ermittlungen und alle Spuren führen zu einer drogenabhängigen jungen Frau: Mascha Kovicz, überaus glaubwürdig gespielt von Meira Durand, bricht regelmäßig in fremde Wohnungen ein – nicht nur, um ihre Heroinsucht zu finanzieren, sondern auch, um sich und ihrer vierjährigen Tochter Holli (talentiert: Mathilda Graf) ein erträgliches Leben zu ermöglichen.

In einer verlassenen Gartenlaube haben sie sich ein ärmliches, doch grünes Paradies geschaffen. Es sei „die schönste Beziehung und gleichzeitig eine der schrecklichsten“, sagt Drehbuchautorin Schuch über das Mutter-Tochter-Gespann, das – in anderer Ausprägung – an jenes aus der erfolgreichen Netflix-Serie „Maid“ erinnert.

Das Schicksal der beiden nimmt Ermittlerin Böwe über alle Maßen mit – und das aus Gründen: Mit 16 habe auch sie ihre Tochter alleine großgezogen, verrät die Kommissarin: „Wenn mir damals niemand geholfen hätte ...“

Und so tut sie, was sie kann: Böwe versucht an das verschlossene Kind heranzukommen und rät der Mutter zum Drogenentzug, als ihr Holli weggenommen wird: „Das ist Ihre letzte Chance. Sie dürfen das jetzt nicht verkacken“.

„Polizeiruf 110“: Streit zwischen den Ermittlerinnen und eine schwierige moralische Frage 

Kollegin Katrin König, die in der Vergangenheit stets ihre eigenen Techtelmechtel zwischen Beruf und Privatleben ausfechten musste, kann der emotionalen Involviertheit ihrer Kollegin indes nicht viel abgewinnen: „Du denkst, du kannst sie retten? Wird dir aber nicht gelingen“, konstatiert sie trocken.

„So gewinnst du ihr Vertrauen nicht“, verteidigt Böwe ihre emotionale Annäherung an die Tatverdächtige. „Bei Junkies fang' ich mit Vertrauen gar nicht erst an“, entgegnet König lapidar. Die Spannung zwischen den Ermittlerinnen bleibt – und unterhält den Zuschauer auch deshalb, weil der Konflikt zwischen Charakterzügen, Gewissen und gesellschaftlichen Schieflagen changiert.

Es gehe um die Frage, kommentiert Darstellerin Anneke Kim Sarnau das Kommissarinnen-Dasein, „wie viel Empathie man in diesem Job zulassen muss, um überhaupt an die Menschen ranzukommen, und wie man sich schützt, damit man nicht zu sehr von ihrem Leid berührt wird“. Für die erfahrene TV-Polizistin „eine schwierige Aufgabe, weil man in diesem Job immer mit krassen Schicksalen konfrontiert wird“.

„Mir geht es darum, den Wert von Besitz zu hinterfragen“

Dabei hält auch Königs Privatleben in der aktuellen Folge mal wieder ungebeten Einzug: Unerwartet taucht gleich zu Beginn ihr Vater Günther (Wolfgang Michael) auf, den sie vor 40 Jahren zum letzten Mal gesehen hat. Seine Partnerin hat ihn rausgeworfen; er ist pleite, körperlich nicht fit – und überfordert seine Tochter mit dem Geständnis angeblicher Vaterliebe. „Ich bin nicht dein kostenloses Altersheim“, wirft ihm die Ermittlerin entgegen.

Das Misstrauen scheint unüberwindbar – oder? Nachvollziehbar und spannend lässt der „Polizeiruf 110: Diebe“ die verzwickten Ermittlungen, persönlichen Probleme und sozialen Spannungen miteinander verquicken. Klare Grenzen verschwimmen.

„Polizeiruf 110“: Wer ist hier eigentlich Täter und wer Opfer? 

Passend dazu lässt sich im Laufe des Krimis auch eine wesentliche Frage immer schwieriger beantworten: Wer ist hier eigentlich Täter und wer Opfer? „Eine Geschichte, in der die Frage nach der Schuld an einem Verbrechen ausschließlich dem Täter in die Schuhe geschoben wird, ist meiner Ansicht nach ohnehin nicht erzählenswert“, glaubt Regisseur Herzog.

Gegenüber dem „Tatort“ sieht er ein positives Alleinstellungsmerkmal des „Polizeiruf 110“ in einer Krimistruktur, „in der die Frage nach dem Mordmotiv viel schwerer wiegt als die Frage, wer den Mord begangen hat“.

Konsequenterweise steht das Motiv auch im Zentrum von „Diebe“: Wann ist Diebstahl in einer ausbeuterischen Gesellschaft moralisch nicht verwerflich? Was würde man selbst angesichts drohenden Hungers tun? Wie so oft hilft der alte Brecht weiter – sowohl mit seinem Diktum vom Fressen, das vor der Moral kommt, als auch mit der alten Frage: „Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“

„Mir geht es darum, den Wert von Besitz zu hinterfragen“, erklärt die Verfasserin des klugen Drehbuchs. „Was ist das eigentlich? Macht er uns wirklich glücklich?“ – Interessanterweise, so die Autorin, hätten im aktuellen Rostocker „Polizeiruf“ alle Figuren, „so unterschiedlich sie auch sind, denselben Traum vom Häuschen im Grünen“.

Und so entpuppt sich der Fernsehkrimi immer mehr als philosophische Sozialstudie, die wichtige Fragen nach Moral und Macht, Wohlstand und Armut und nach der Verteilung gesellschaftlichen Reichtums aufwirft. (tsch)