Das neue ARD Kinderprofil bietet einen geschützten Streaming-Bereich für Kinder mit altersgerechten Inhalten. Welche Bedeutung Fernsehen in der Lebensrealität von Kindern hat und wie wichtig Medienkompetenz schon bei kleinen Jungen und Mädchen ist, erläutert die Medienpädagogin Dr. Maya Götz im Interview.
„Kinder gucken durchschnittlich 60 Minuten täglich lineares Kinderfernsehen“

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„Lineares Fernsehen hat überraschend viel Bedeutung“, betont Medienpädagogin Maya Götz im Interview: „Die Kinder gucken durchschnittlich 60 Minuten täglich lineares Kinderfernsehen.“ (Bild: Lumine Images/iStock)
Fernsehen und Streaming spielen im Alltag vieler Familien eine große Rolle. Damit Eltern ihren Nachwuchs bei Bedarf auch eigenständig nach passenden Inhalten suchen lassen können, ging im April das neue ARD Kinderprofil als öffentlich-rechtliches Streaming-Angebot online. Eltern können hier ein Profil mit Altersangabe ihrer Kinder erstellen. Die Kleinen bekommen dann nur altersgerechte Inhalte aus dem fiktionalen und nicht fiktionalen Angebot der ARD und des Kinderkanals KiKA angezeigt. Ein individuell festlegbarer Pin-Code gewährleistet, dass die Kinder den geschützten Bereich nur mit Hilfe der Erwachsenen verlassen können. Die Inhalte werden unter Federführung vom MDR kuratiert.
Die Münchner Medienpädagogin Dr. Maya Götz stand als medienpädagogische Fachberaterin den Redakteurinnen und Redakteurin des ARD Kinderprofils beratend zur Seite. Die gebürtige Hamburgerin ist Medienpädagogin bei der Medienkompetenzplattform „so geht MEDIEN“ von ARD und ZDF und Leiterin des Internationalen Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) beim Bayerischen Rundfunk und des Prix Jeunesse International. Welche Bedeutung das ARD Kinderprofil im Smartphone-Zeitalter hat, erläutert Maya Götz im Interview. Außerdem erklärt die Expertin, welche Aspekte der Medienkompetenz schon kleine Kinder lernen müssen und sie verrät, welche Kindersendung bei der Vermittlung schwieriger Inhalte weiterhilft.
teleschau: Welche Bedeutung hat das Fernsehen heute noch in der Lebensrealität von Kindern?
Maya Götz: Lineares Fernsehen hat überraschend viel Bedeutung. Die Kinder gucken durchschnittlich 60 Minuten täglich lineares Kinderfernsehen. Der KiKA ist gerade in Familien auch sehr hilfreich bei der Gestaltung des Tagesrhythmus: Wenn sich die Kinder nach der Schule ein bisschen ausruhen müssen, wird darauf gerne zurückgegriffen. Und abends heißt es: Nach dem „Sandmännchen“ schnell ausschalten und ab ins Bett! Gleichzeitig wissen wir, dass Kinder und Rentnerinnen und Rentner zurzeit die Einzigen sind, die das noch so massenhaft nutzen. Aber auch bei Kindern ist die Nutzungsdauer zurückgegangen: Früher sahen sie im Schnitt noch anderthalb Stunden Fernsehen.
teleschau: In welche Richtung entwickeln sich die Sehgewohnheiten der Zielgruppe in Zukunft?
Götz: Keiner weiß, was in zehn Jahren sein wird. Gerade mit der KI wird sich alles noch einmal exponentiell schneller verändern. Die Zukunft wird aber ganz klar in Richtung Mediatheken gehen, weil sie da gezielter das suchen oder das nutzen können, was sie schon kennen. Das schränkt sie aber aus pädagogischer Perspektive auch ein. Sehen Kinder immer wieder dieselben Sendungen, verpassen sie andere Genre und Inhalte, die sie toll finden würden, wüssten sie von ihnen. Das war ein Vorteil des linearen Fernsehens. Es ist kuratiert und vielfältig. Da hat jemand nachgedacht: Wer ist das Zielpublikum? Was brauchen die? Wie kann man sie unterstützen? Da kann es passieren, dass ein Kind mal zufällig in eine Dokumentation reinstolpert und merkt: Oh, das ist ja auch spannend!
teleschau: Inwiefern denken Sie, dass KI einen Einfluss auf das Kinderfernsehen haben wird?
Götz: Es wird zum einen zunehmend in der Produktion genutzt werden und ganz sicher in der Disposition. Alles andere werden wir sehen. Ich glaube, wir können selbst noch gar nicht ausmachen, wie groß die Veränderungen sein werden. In 15 Jahren werden wir unter Lehren und Lernen vielleicht etwas völlig Neues als selbstverständlich halten, was wir uns heute noch nicht einmal vorstellen können.
Welchen Nutzen hat das neue ARD Kinderprofil?
teleschau: Wie genau unterscheidet sich das neue ARD Kinderprofil von den früheren Kinderbereichen der Mediatheken oder auch vom KiKA Player, wo Eltern schon früher Altersbeschränkungen vornehmen konnten?
Götz: Ein großer Unterschied ist die Individualisierung. Die Idee dahinter ist, sich anzugucken: Was gefällt dem Kind gerade? Und sich dann in einem zweiten Schritt zu überlegen: Welche Sendung würde denn gut dazu passen? Das Kind bekommt also weitere Empfehlungen, so wie wir es auch von YouTube oder TikTok her kennen - allerdings mit einem pädagogisch wertvollen Hintergrund.

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Dr. phil. Maya Götz ist Medienpädagogin bei der Medienkompetenzplattform „so geht MEDIEN“ von ARD und ZDF und Leiterin des Internationalen Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) beim Bayerischen Rundfunk und des PRIX JEUNESSE INTERNATIONAL. (Bild: IZI/Christian Rudnik)
teleschau: Nach welchen Kriterien fand die Einteilung in die drei Altersgruppen statt?
Götz: Das sind Einteilungen, mit denen in der Produktion schon ganz lange gearbeitet wird. Die sind angelehnt an das, was das Leben an Schulen in Deutschland ausmacht: also der Übergang vom Kindergarten in die Grundschule und später in die weiterführende Schule.
teleschau: Überspitzt formuliert besitzt heute schon jedes zweite Grundschulkind ein eigenes Smartphone mit Internetzugang. Bringt diese Beschränkung dann überhaupt noch etwas?
Götz: Ja, denn es geht uns um die Frage: Wie können Kinder Kompetenzen entwickeln, Medien als Bereicherung für ihren Alltag zu nutzen, sich aber gleichzeitig nicht davon bestimmen zu lassen? Das ist etwas, das uns bei den Jugendlichen von heute nicht gelungen ist.
„Sobald ein Kind ein Medium für sich entdeckt, muss die Medienerziehung anfangen“
teleschau: Wie hat sich die Mediennutzung von Kindern, auch aus inhaltlicher Sicht, im Vergleich zur Elterngeneration verändert?
Götz: Das Angebot hat sich vervielfacht, vor allem durch den Schritt zu Streamern und Mediatheken. Früher, als es nur lineares Fernsehen gab, war der zeitliche Rahmen von Kinderprogrammen doch recht eng. Das hat sich durch Mediatheken schon verbreitert. Heute finden Kinder dort mehr Inhalte, die sie interessieren, und können diese auch mehrmals nacheinander anschauen. Gleichzeitig hat sich die Mediennutzung in einer Weise verändert, wie wir uns das vor 20 Jahren niemals hätten vorstellen können. Wir alle greifen, wenn wir an der Bushaltestelle stehen, sofort zum Handy, um die drohende Langeweile zu überbrücken.
teleschau: Wie bewerten Sie Situationen, in denen schon kleine Kinder im Kinderwagen ein Smartphone in die Hand gedrückt bekommen?
Götz: Wir haben unter anderem eine Studie zu der Frage gemacht: Wie kommen Smartphones das erste Mal in den Familien zu den kleinen Kindern? Oftmals passiert das durch Notsituationen: So gibt es etwa die Geschichte eines Dreijährigen, der sich plötzlich geweigert hat, sich die Zähne zu putzen. Er biss einfach auf die Zahnbürste. Es war jeden Abend ein Kampf, bis die Mutter eines Abends sagte: „Okay, du darfst jetzt eine Folge 'Shaun das Schaf' gucken.“ Das hat funktioniert. Seitdem ist er jeden Abend friedlich, aber das Handy wird die Familie in dieser Situation nicht mehr los. Das ist ein Stück weit in Ordnung, wenn man bedenkt, unter welcher Belastung Eltern täglich stehen. Gleichzeitig ist ganz wichtig zu betonen: Sobald ein Kind ein Medium für sich entdeckt, muss die Medienerziehung anfangen.
„Der erste Schritt ist immer: ausschalten lernen“
teleschau: Wie sollte die konkret aussehen?
Götz: Der erste Schritt ist immer: ausschalten lernen! Gerade online hören die Dauerschleifen ja nie auf. Da zu sagen: „Du darfst eine Sendung anschauen und dann schalten wir wieder aus“, kann anstrengend sein, aber es ist wichtig.

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Bei kindgerechten Antworten auf Fragen zu schwierigen Themen wie Kriegen empfiehlt die Expertin die Kindernachrichtensendung „logo!“. Im „logo! extra: Der Zweite Weltkrieg und wir“ (Donnerstag, 8. Mai, 19.25 Uhr, KiKA) etwa begibt sich Reporterin Lotte auf die Spuren des historischen Ereignisses und besucht unter anderem ein Museum in Danzig. (Bild: ZDF/Kinga Woloszyn-Kowanda)
teleschau: Wie viel Bildschirmzeit empfehlen Sie je Altersstufe?
Götz: Kinder sind sehr unterschiedlich und stecken die Eindrücke unterschiedlich gut weg. Es gibt Kinder, die nach wenigen Minuten fernsehen schon so aufgeregt sind, dass es vielleicht eine gute Idee ist, andere Wege der Unterhaltung zu finden. Die Faustregel lautet: ab einem Alter von drei Jahren 30 Minuten am Tag und danach pro Lebensjahr zehn Minuten mehr. Das war früher weniger, hat sich aber an die Realität angepasst. Grundsätzlich gilt: Je länger Sie den Einstieg in die Medienwelt hinauszögern können, umso besser. Doch ab dem zweiten Kind hat sich das meist eh erledigt (lacht).
teleschau: Abgesehen von der konkreten Bildschirmzeit: Welche Aspekte der Medienkompetenz sind noch wichtig zu vermitteln?
Götz: Das Wichtigste ist, den Kindern einen sicheren Raum zu bieten, wo sie merken: Hier bekomme ich etwas angeboten, auf das ich mich verlassen kann. Darüber hinaus müssen Kinder heute sehr früh, sehr viel mehr an Medienkompetenz begreifen: Allein die Feststellung, dass Medien mit KI nicht mehr nur die Realität abbildet. Kinder lernen eigentlich von Anfang an, dass Erwachsene zwar nicht immer recht haben, aber zumindest was bildlich festgehalten ist, der Realität entspricht. Dass es in den Medien heutzutage nicht immer der Fall ist, musste meine Generation so noch nicht lernen. Einer der ersten Schritte von Medienkompetenz für Grundschulkinder ist deshalb, überhaupt zu zweifeln und zu fragen: Kann das eigentlich sein? Das ist für Kinder, die gegen Autoritäten und gegen alles, was sie gelernt haben, angehen müssen, eine große Herausforderung.
„Medienkompetenz betrifft alle“
teleschau: Medienkompetenz betrifft aber nicht nur das Fernsehen ...
Götz: Das Gleiche gilt für Online-Kommunikation: Heutzutage haben vierte Klassen schon einen Klassenchat auf WhatsApp, obwohl die App für diese Altersklasse eigentlich noch gar nicht zugelassen ist. Auch hier muss ich lernen, wie viele Emojis und welche Emojis darf ich verwenden? Wie spreche ich mit anderen? Wie sehr können meine schnell dahin geschriebenen Worte andere verletzen? Auch hier brauchen Kinder, sobald sie damit in Berührung kommen, Medienkompetenz.
teleschau: Ist es eher Aufgabe der Eltern oder der Schule, diese Form von Medienpädagogik zu vermitteln?
Götz: Das betrifft alle! Das Thema Medienkompetenz ist heute so viel wichtiger als es noch vor einigen Jahren war. Das ist eine Aufgabe, die auf alle zukommt, und wer immer in die Situation kommt, sollte Kindern dabei helfen.
„Kinder haben oft einen viel diverseren Blick auf die Welt“
teleschau: Kindersendungen erregen immer wieder die Gemüter, weil sie angeblich zu politisch oder auch zu einflussnehmend seien. Ein Auftritt von Riccardo Simonetti in der „Sesamstraße“ etwa sorgte kürzlich für einen Shitstorm von rechts. Wie ist Ihre Einschätzung als Medienpädagogin: Gibt es überhaupt Themen, die nicht ins Kinderprogramm gehören?
Götz: Den konkreten Fall habe ich im Einzelnen nicht verfolgt. Erst mal kann man sagen: Es gibt kaum ein Thema, was Grundschulkindern nicht altersadäquat vermittelt werden kann. Im Kita-Alter ist das noch ein bisschen anders, aber auch da ist viel mehr möglich, als wir es uns denken. Doch auch Kita-Kinder haben Fragen, wenn sie etwas im Alltag erleben. Denn sie haben oft einen viel diverseren Blick auf die Welt, als wir es uns vorstellen können. Zum Teil bemerken sie nicht mal die Hautfarbe von anderen Kindern. Kinder leben heute schon in einer sehr viel diverseren Realität, in der Stadt natürlich noch mal mehr als auf dem Dorf, aber auch da ist das Leben diverser geworden. Für Kinder ist das erst mal überhaupt kein Problem, das sind eher die Erwachsenen die daraus ein Problem machen oder sich künstlich über irgendwas aufregen, um Aufmerksamkeit zu bekommen.
teleschau: Auch zum Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs sind einige Kindersendungen geplant. Wie stellt man sicher, dass Themen wie diese Kinder nicht überfordern?
Götz: Zum einen ist es immer wichtig zu gucken: Wo steht mein Kind gerade? Was hat es mitbekommen? Das betrifft die aktuelle Nachrichtenlage: Wenn irgendwo ein Anschlag passiert ist, Krieg ausbricht oder sich eine Naturkatastrophe ereignet, bekommen Kinder das zum Teil mit, aber nicht immer. Im Kita-Alter verarbeiten Kinder das typischerweise im Nachspiel: Da fangen dann die Puppen an, sich zu hauen oder ertrinken. In solchen Fällen lohnt es sich, mal zu fragen: Das sieht spannend aus, was spielst du da? Im Erzählen wird dann meist deutlich, was das Kind schon weiß oder bereits mitbekommen hat. Dabei geht es darum, zu erkennen, wo es wichtig ist, genauer darüber zu sprechen, damit das Kind das Erlebte nicht mit in seine Albträume nimmt. Entscheidend ist, ganz einfach, ohne Dramatisierung und ohne zusätzliche Emotionen darüber zu sprechen. Ein guter Tipp ist die Kindernachrichtensendung „logo!“.
„Grundschulkinder haben Wissenshügel“
teleschau: „logo!“ behandelt meist das aktuelle Weltgeschehen. Wie ist es bei Themen wie dem Zweiten Weltkrieg, die schon lange zurückliegen?
Götz: Die Vergangenheit des Zweiten Weltkriegs ist da, und es ist wichtig, dass Kinder lernen, sich damit auseinanderzusetzen. Bei „Der Krieg und ich“ waren wir von Anfang an wissenschaftlich begleitend dabei: Welche Bilder gehen noch? Wie weit kann man den Holocaust überhaupt bebildern? Und wo liegt die Grenze? Die ersten Sendungstexte haben wir dann den Kindern vorgelesen, um zu überprüfen: Was haben sie verstanden? Und wo liegen Probleme? So kam es vor, dass die Kinder, nachdem wir ihnen den Sendungstext vorgelesen hatten, ganz selbstverständlich und ständig das Wort „Nazi“ sagten. Weil „Nazi“ ist in den Kinderohren erst mal ein ganz lustiges Wort. Hier war unsere Rückmeldung dann: „Am besten sagt ihr Nationalsozialisten. Das ist so ein langes Wort, dass es unangenehm ist. Oder, wenn ihr Nazi sagt, müsst ihr das Wort sofort in einen negativen Kontext stellen.“ Grundschulkinder haben Wissenshügel: 80 Prozent von ihnen kennt den Namen Adolf Hitler. Ein Teil von ihnen weiß, es gab den Zweiten Weltkrieg. Sie wissen, dass das ein großer Krieg war, sie wissen aber oft nicht, wer gewonnen hat. An dieses Wissen muss ich dann anknüpfen und dabei darauf achten, dass die Kinder das kognitiv gut aufnehmen.
teleschau: In welche Richtung wird sich das Kinderfernsehen in den nächsten zehn Jahren entwickeln?
Götz: Es gibt zunehmend extrem erfolgreiche Sendungen, die von Spielzeugherstellern produziert werden. Bei denen wird das Geld mit Lizenzprodukten verdient. Kinder sollen ganz gezielt als Kunden angesprochen werden. Aus den Geschichten nehmen die Kinder meist nicht viel mit, aber sie wollen oft gleich die neue Puppe der Serie haben. Dieser Effekt wird sich mit Sicherheit noch verstärken. Parallel dazu wird es aber weiterhin Qualitätsfernsehen geben, Programme, bei denen Redaktionen dahinterstehen. Hinzukommen die Herausforderungen der sozialen Medien: Die Kinder von morgen werden noch stärker einen Alltag erleben, der mehr vom Wischen auf Bildschirmen geprägt ist, als davon reale Dinge wie zum Beispiel ein Haustier anzufassen. (tsch)