Alice Schwarzer ganz emotionalBei welchem kölschen Lied ihr die Tränen kommen

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Alice Schwarzer beim Interviewtermin vor dem Museumscafé Ludwig in Köln. Sie ist gerade mit ihrem neuen Buch unterwegs.

Köln – Lange war sie von der Bildfläche verschwunden, jetzt ist sie wieder da – und wie! Alice Schwarzer (77), Kopf, Herz und Stimme des Feminismus, hat gerade ihr neues Buch veröffentlicht: „Lebenswerk“. Wir haben die streitbare „Emma“-Chefin zum langen Interview getroffen und sie hat uns dabei einen ganz besonderen Einblick in ihr Leben, ihre Gedankenwelt und ihre innige Beziehung zum Rheinland gegeben.

Wie ist es, für ein Buch sein Leben noch mal Revue passieren zu lassen? Alice Schwarzer: Ich will nicht klagen, ich habe es ja geschafft. Aber es ist mir nicht immer leicht gefallen, mich vor allem an die späten 70er und die 80er zu erinnern, weil sie zum Teil schwer und dunkel waren. Ich war erschrocken, als ich feststellte, wie brandaktuell heute noch Dinge sind, die wir damals thematisiert haben – wie der Missbrauch von Kindern, über den wir 1977 in der „Emma“ geschrieben haben, oder die sexuelle Belästigung im Beruf, die schon 1980 „Emma“-Titel war.

Was hat Sie stolz gemacht? Dass ich viele Frauen und so manchen Mann ermutigt habe und immer noch ermutige! Und dass ich existenzielle Themen, die bis dahin totgeschwiegen worden waren, öffentlich gemacht und damit andere Medien dazu gezwungen habe, darüber zu berichten, wie z. B. beim Thema Prostitution. Wir sind dran geblieben, haben es geschafft, dass über den Handel mit der Ware Frau endlich eine kritische gesellschaftliche Diskussion beginnt. Das ist schon viel!

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In „Lebenswerk“ geht’s auch um Frauen mit Kopftuch und die Behauptung, Sie würden die zum Ungehorsam aufwiegeln... Was ich nicht mache. Ich informiere, kläre auf. Ich stelle keine neuen Normen auf. Aber ich möchte auch nicht in einer Welt leben, in der Millionen Frauen unter den Schleier gezwungen werden, weil angeblich ihr Haar und ihr Körper haram, „Sünde“, sind und nur vom eigenen Mann gesehen werden dürfen. Der Schleier ist ja die Flagge des politischen Islam, damit hängt die Scharia zusammen, die nicht nur die Frauen völlig entrechtet. Ich hänge am Rechtsstaat, an der Demokratie, an der Gleichberechtigung der Geschlechter.

Sie treten gegen vieles und viele an. Sind Sie furchtlos? Ja. Ich bin im tiefsten Herzen total angstfrei.

Haben Sie jemals davon geträumt, Politikerin zu werden? Nein, bei mir würde es nicht mal zur Kassenwartin reichen. Ich habe nicht die Disziplin, ich bin viel zu anarchisch. Aber ich habe immer den Schulterschluss mit ernsthaft frauen-engagierten Politikerinnen gesucht, egal in welcher Partei sie sind. Mein Platz als politische Figur ist im außerparlamentarischen Raum. Da habe ich mehr erreicht, als ich es je innerhalb einer Partei erreicht hätte.

Die Aktionen, die vielen Menschen, die Sie getroffen haben, die Kämpfe – warum sind Sie in Köln gelandet und geblieben? Wäre Berlin für das, was Sie machen, nicht besser gewesen? Ich habe es mal versucht, als ich 1974 von Paris aus zurück nach Deutschland wollte. Berlin ist mir sehr fremd geblieben – ich bin durch und durch Rheinländerin, da ist nichts zu machen. Und Köln ist näher an Paris, meiner zweiten Heimatstadt.

Was hatte das Rheinland, was Berlin nicht hatte? Mitte der 70er war Berlin noch geteilt, und die Milieus, in denen ich verkehrte, waren hoch ideologisiert. Es gab nur Schwarz oder Weiß, Ja oder Nein, Richtig oder Falsch. Das ist mir sehr fremd. Und dann der Humor. Die Berliner können nur über andere lachen – die Kölner lachen am liebsten über sich selbst. Köln ist für eine Wuppertalerin wie mich auch Heimat.

Woher kommt die Liebe? Es liegt wohl an der Großmutter, der ich mein »Lebenswerk« gewidmet habe. Sie kam aus Elberfeld, war eine sehr unsentimentale und sarkastische Person – aber tausendprozentige Rheinländerin. Als wir nach dem Krieg nach Franken evakuiert waren und Kölner zum Hamstern vorbeikamen und die „Wenn ich su an ming Heimat denke“ sangen, kamen ihr die Tränen.

Geht Ihnen das auch so? Ja. Wenn ich aus dem Bergischen komme und vom Auto aus wieder die Dom-Spitzen sehe, muss ich schlucken. Einmal lief im Radio „Ich mööch zo Fooß noh Kölle jonn“ – da waren auch meine Augen feucht.

Dann muss es Sie doch im Herzen treffen, dass der Karneval abgesagt worden ist? Aber ja! Ich bin totaler Jeck. Ich liebe Straßenkarneval. Klar ist es richtig, dass Zug und Sitzungen verboten wurden, geht ja nicht anders. Ich weiß aber, dass man Kölnern den Karneval nicht verbieten kann. Karneval ist in ihren Herzen. Deswegen werden viele auch diesmal feiern – auf der Straße, in der Eckkneipe oder zu Hause.

Sie auch? Ich bin mir noch nicht sicher. Ich flüchte. Oder ich bin mittendrin. Und singe mit meiner Truppe durch.

Wie haben Sie den Lockdown überstanden? Ich war ziemlich privilegiert. Ich war in meinem Haus auf dem Land, habe bis April am Buch gearbeitet, den Traumfrühling genossen. Einen Schock habe ich erst bekommen, als ich wieder nach Köln kam und die leeren Geschäfte und die Menschen mit Masken sah. Schrecklich, dass man die Gesichter nicht mehr sieht. Es bedrückt mich, als jemand, der Menschen gern anfasst, dass ich beim Begrüßen niemanden umarmen kann.

Für oder gegen die bisherigen Maßnahmen? Dafür! Das Ergebnis gibt der deutschen Politik bisher Recht. Wir haben das bisher gut gemacht – aber bitte nicht übertreiben! Ich finde z. B. die aktuellen Beherbergungs-Verordnungen sehr fragwürdig. Man sollte so viel wie möglich auf Aufklärung und so wenig wie möglich auf Verbote setzen.

Sie haben jüngst gestanden, Fan der TV-Serie „Der Bergdoktor“ zu sein. Überraschend... Ich bin da zufällig reingeraten – und hängengeblieben. Die Geschichten sind gut, die Männer in der Serie tendieren Richtung „neue Männer“. Toll, wenn der Feminismus in einer Unterhaltungsserie angekommen ist. Da gehört er auch hin! Übrigens: Ich kann sagen, dass der Bergdoktor, neben dem ich schon im Fernsehen saß, in Natur noch besser aussieht als im TV.

Alice Schwarzers bewegtes Leben

„Lebenswerk“ (KiWi-Verlag, 25 Euro) ist der zweite Teil von Alice Schwarzers Autobiografie. Teil 1 („Lebenslauf“) erschien bereits 2011. Alice Schwarzer (geboren am 3. Dezember 1942 in Wuppertal wuchs bei den Großeltern auf. 1966 machte sie ihr Volontariat bei den „Düsseldorfer Nachrichten“.

1969 war sie Reporterin bei der Satirezeitschrift „Pardon“ (Nachfolgerin von Günter Wallraff). Als freie Journalistin arbeitete sie in Paris, engagierte sich bei der Pariser Frauenbewegung. Das tat sie ab 1974 auch in Deutschland. 1975 veröffentlichte sie ihr Buch „Der kleine Unterschied“, 1977 gründete sie die Zeitschrift „Emma“.

Seit 2018 gibt es die „Alice Schwarzer Stiftung“ für Menschenrechte, Selbstbestimmung und Chancengleichheit für Mädchen und Frauen. Alice Schwarzer lebt in Köln, Paris und im Bergischen Land.