„Was für ein Unfug“Kommentar in „Tagesthemen“ zu Selenskyj sorgt für Empörung

Der „Tagesthemen“-Kommentar von Gudrun Engel zum Besuch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj wurde scharf kritisiert.

Der „Tagesthemen“-Kommentar von Gudrun Engel zum Besuch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj wurde scharf kritisiert.

Das Meinungsstück in den „Tagesthemen“ sorgt bei Twitter für reichlich Empörung. Gudrun Engel, seit diesem Jahr neue Leiterin des ARD-Studios in Washington, sieht in dem USA-Besuch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj einen „Akt der Verzweiflung“ – die Kritik an dieser Wortwahl ist groß. 

von Martin Gätke (mg)

Seit jeher funktionieren die „Tagesthemen“ in der ARD als Ergänzung zu den tagesaktuellen Ereignissen, nicht nur Hintergründe und Zusammenhänge werden der Zuschauerin oder dem Zuschauer erklärt, sondern auch Meinungsstücke sind Teil der Sendung. 

Seit fast einem halben Jahrhundert kommen hier Journalistinnen und Journalisten zu Wort, die ihre eigene Sichtweise auf die Dinge darlegen – eine Sichtweise, die nicht der Haltung des Senders entsprechen muss oder der Meinung der Zuschauenden. Wie unterschiedliche solche Sichtweisen sein können, zeigte sich nun auch am Mittwochabend. 

ARD-„Tagesthemen“: Kommentar sorgt für viel Kritik

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ist nach Washington gereist, um der USA für ihre Unterstützung zu danken. Er zeigte sich Seite an Seite mit dem US-Präsidenten Joe Biden, hielt eine emotionale Rede vor dem US-Kongress. 

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Auch die „Tagesthemen“ der ARD berichteten über diese wichtige Reise, anschließend kommentierte Gudrun Engel das Geschehen. Die WDR-Journalistin ist seit dem Sommer 2022 Leiterin des ARD-Studios in Washington – und stellte eine durchaus steile These auf. 

Selenskyjs Staatsbesuch sei vielmehr ein „Akt der Verzweiflung“ und nur Symbolik, kommentierte Gudrun Engel. Das bringe „die Welt keinen Meter näher an ein Ende des Krieges“. Sie sehe die Reise kritisch. 

Engel wörtlich: „Na klar, der Mann ist verzweifelt, ich kann das verstehen. Der Krieg ist grausam, täglich sterben Menschen, die Infrastruktur ist zerstört. Es ist bitterkalt. Mehr als 300 Tage geht das schon so und es ist kein Ende in Sicht. Wir Zuschauer am Seitenrand sind hilflos. Aber diese Reise von Selenskyj nach Washington ist ein Akt der Verzweiflung.“

Dass Selenskyj nur auf Bildschirmen zu sehen ist, sich online durch die Parlamente der Welt schalte, reiche wohl nicht mehr. „Also ist er in die USA zu seinem Hauptgeldgeber geflogen. Die Vereinigten Staaten haben bislang mehr als 69 Milliarden US-Dollar in die Ukraine gesteckt, damit die nicht zusammenbricht. Doch nach den US-Zwischenwahlen werden die kritischen Stimmen lauter.“

Selenskyj wisse, dass die Zeit knapp wird, denn die Republikaner stellten ab Januar die Mehrheit im Repräsentantenhaus. Die würden das Geld lieber anderweitig ausgeben. „Wenn er nochmal was bewegen kann, dann vermutlich jetzt. Und dazu muss er persönlich kommen. Denn jetzt, so kurz vor Weihnachten, sind das gute Bilder für alle Beteiligten.“ Für diese habe der ukrainische Präsident wohl sein Leben riskiert. Dabei brächten sie das Land kaum näher an ein Ende des Krieges.

ARD: „Tagesthemen“-Kommentar wird scharf kritisiert

Auf Twitter wurde der Meinungsbeitrag scharf kritisiert. Der Bundestagsabgeordnete Ulrich Lechte (FDP) schreibt: „Die Ukraine kämpft seit über 300 Tagen voller Zuversicht und Mut gegen den russischen Aggressor und Gudrun Engel maßt sich an, von ukrainischer Verzweiflung zu sprechen. Das ist schon sehr viel subjektive Meinung und ganz wenig Tatsachen, sorry.“ Parteigenosse Jan Mücke (parlamentarischer Staatssekretär a.D.) meint: „Was für ein Unfug.“

Benjamin Tallis , Forscher und Projektleiter bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), nennt den Kommentar „skandalös“. „Die Bevormundung der Ukrainer und die Unterbewertung der Fortschritte der Ukraine auf dem Schlachtfeld waren in diesem Jahr ein durchgängiges Merkmal der öffentlichen Debatte in Deutschland“.

Carlo Marsala, Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München und schon oft zu Gast in verschiedenen Talkshows, meint: „Nachdem ich jetzt Selenskyjs Rede gehört habe, stellt sich mir die Frage, wie man darauf kommt, dass der Mann verzweifelt sei?“

Ljudmyla Melnyk, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Politik in Berlin, schreibt auf Twitter: „So viel Zynismus gepaart mit leichtem Antiamerikanismus in weniger als zwei Minuten rüberzubringen, muss man echt können.“

Nur Stunden nach der leidenschaftlichen Rede des ukrainischen Präsidenten hat der US-Senat derweil einem Haushaltsentwurf zugestimmt, der unter anderem milliardenschwere Hilfen für die Ukraine vorsieht.

Der geplante Etat soll ein Volumen von insgesamt 1,7 Billionen US-Dollar (1,6 Billionen Euro) haben. Die Hälfte des Budgets entfällt auf Verteidigungsausgaben, für die Ukraine sind Hilfen in Höhe von 44,9 Milliarden US-Dollar vorgesehen.