Lützerath, Brokdorf, Gorleben„Weitaus radikaler“: Forscher ordnet Protestbewegungen ein

In Lützerath stehen sich am 14. Januar 2023 Mitglieder einer Einsatzhundertschaft der Polizei sowie Demonstrierende vor einem gigantischen Kohlebagger gegenüber.

In Lützerath stehen sich am 14. Januar 2023 Mitglieder einer Einsatzhundertschaft der Polizei sowie Demonstrierende vor einem gigantischen Kohlebagger gegenüber.

Der Kampf um Lützerath steht in einer Reihe mit „historischen“ Demonstrationen gegen Atomkraft und für Frieden wie in Brokdorf, Bonn oder Wackersdorf. Protestforscher Wolfgang Kraushaar erklärt die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Aktivistinnen und -aktivisten.

von Andrea Kahlmeier (ak)

Kunstverschandlungen und Klebeaktionen, Hausbesetzungen und Schlägereien mit Polizisten. Viele Deutsche schauen mit Entsetzen auf die Aktionen von Klimaaktivistinnen und -aktivisten. Politiker prägten gar das Unwort „Klimaterroristen“.

Aber ist die Jugend wirklich so viel militanter als früher? „Nein“, sagt Politikwissenschaftler Dr. Wolfgang Kraushaar, der seit Jahrzehnten Protestbewegungen beobachtet. „Proteste gab es in den vergangenen Jahrzehnten immer – auch weitaus radikaler.“ Doch nicht die Autonomen und Chaoten, sondern Friedensbewegte, Bauern und Bürger haben oft wirklich etwas bewegt.

Waldsterben, Frieden, Atomkraft: Was Demonstrierende vor Jahrzehnten antrieb

In den 60er Jahren gingen besonders viele Menschen für mehr Demokratie auf die Straße, später kamen Frieden, Migration und Globalisierung als wichtige Themen hinzu. „Man hatte einfach gemerkt, dass Petitionen ein abgebrannter Dauerbrenner waren und nichts mehr genutzt haben“, so der Historiker.

Da hoffte das Volk auf der Straße, das 1967 gegen den Schahbesuch, ab 1981 gegen den Nato-Doppelbeschluss und gegen das Waldsterben protestierte, mehr ausrichten zu können. In diesen Fällen allerdings oft nur wenig.

Dass Protest nicht immer erfolglos bleiben müsse, könne man etwa an der Verhinderung einer Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf erkennen. Dieses risikoreiche Projekt der bayerischen Landesregierung musste 1989 eingestellt werden. Das einstige Baugelände ist in ein Gewerbegebiet umgestaltet worden, das nun „Innovationspark Wackersdorf“ heißt.

Die größten Parallelen sieht Kraushaar bei den Klimaaktivisten heute und den Anti-Atomkraftgegnern von früher. Bei beiden Strömungen gehe es um etwas „Existenzielles, letztlich um Leben oder Tod“. „Lieber heute aktiv als morgen radioaktiv“, hieß es damals etwa.

Das kleine Örtchen Wyhl (bei Freiburg) legte vor fünf Jahrzehnten den Grundstein für die Anti-AKW-Bewegung in Deutschland. „Bauern und Studenten bildeten 1973 eine Union und verhinderten den Bau eines Atomkraftwerks“, erläutert Kraushaar.

Freie Republik Wendland 1980: Viel größer als die „Lützi“-Proteste

Was viele vergessen: Die Proteste der ersten Atomkraftgegner hatten viel größere Dimensionen als etwa die am Hambacher Forst oder jetzt in Lützerath.

„Im Frühjahr 1980 zogen Tausende von Besetzern in das Hüttendorf Wendland, riefen eine Freie Republik aus. Es gab sogar eigene Pässe für die Bewohner“, erinnert sich der Historiker.

Die ganze Republik habe bei der Räumung den Atem angehalten, der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt und Innenminister Gerhart Baum hätten sich am 4. Juli 1980 sogar per Standleitung über den Fortgang der Räumung informiert.

Was im Falle von Lützerath heute ganz anders sei: Sogar die Polizei äußert Sympathie für die Ziele der Besetzer. Kraushaar: „Wen wundert es? Der Polizeieinsatzleiter vor Ort ist ein Grüner.“ Nehmen Sie hier an der EXPRESS.de-Umfrage teil:

In Lützerath versuchte die Polizei – nicht zuletzt nach der Erfahrung im Hambacher Forst – zu deeskalieren. In Gorleben, Wackersdorf und Brokdorf gingen die Beamten dagegen nicht besonders zimperlich mit den Demonstranten um. Umgekehrt allerdings noch viel weniger.

Kraushaar will die „Kunstschmierereien“ der heutigen Klimaaktivisten nicht gutheißen, hofft jedoch, dass es bei einzelnen Gruppierungen nicht zu einer Militarisierung wie in den 70ern komme. Stichwort: Sabotageaktionen und Sprengstoffanschläge auf Hochspannungsmasten.

Friedensdemo in Bonn 1982: Aktivist zündet sich an

Aber auch damals galt für die große Masse: Gewalt gegen Personen ist ein No-Go. Allerdings nicht gegen sich selbst. Der Politikwissenschaftler erinnert an Tausende von Menschen, die in vielen Orten Deutschlands in den Hungerstreik traten – für den Frieden.

Oder an Menschen, die als letzten Ausweg den Tod sahen, um wachzurütteln. Wie etwa Student Dietrich Stumpf, der sich 1982 auf einer Friedensdemonstration in Bonn selbst in Flammen setzte, um ein Zeichen gegen den „Rüstungswahnsinn“, der angeblich direkt auf den nächsten Weltkrieg zusteuere, zu setzen.

Wie sieht der Experte die Zukunft der Klimaaktivisten? Werden sie Erfolge feiern wie im Hambacher Forst, werden redegewandte Galionsfiguren wie Luisa Neubauer wie einst Grünen-Initiatorin Petra Kelly Menschen zum Umdenken bewegen?

„Die Letzte Generation, Fridays for Future und Extinction Rebellion tragen ihre Namen ja nicht von ungefähr, sie haben den Anspruch und sehen sich in der Pflicht, die Klimakatastrophe zu stoppen“, bricht der Historiker eine Lanze für die Aktivisten.

Könnten Demonstrierende das ganze Land lahmlegen?

Er glaubt allerdings, dass manches wenig zielfördernd sei, etwa die Durchsetzung von Bürgerräten per Losverfahren, was die „Letzte Generation“ anstrebe. Es sei eine Anmaßung, sich und seine Ansichten höher zu setzen als die parlamentarische Demokratie. Das habe etwas Sektenhaftes an sich.

Doch dass es in Deutschland zu so dramatischen Zuständen kommen könne wie in Frankreich oder Italien, glaubt der Experte nicht. Beispiel: „Den letzten Generalstreik, als Arbeiter das ganze Land lahmlegten, hatten wir hierzulande 1948.“

Im Gegensatz zu früheren Zeiten strebten Regierende wie Protestierende heute immerhin das gleiche Ziel an – die Verhinderung des Klimakollapses.

Im Unterschied zur AfD, den Reichsbürgern und anderen Rechtsradikalen gebe es in dieser Hinsicht inzwischen eine nicht ganz unerhebliche Schnittmenge zwischen Klimaschützern und Bundesregierung. Kraushaars Fazit: „Das hat bislang die Stabilität dieser Demokratie ausgezeichnet – und wird es wohl auch weiterhin tun.“