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Kölner Mütter in Existenzangst„Ich weiß nicht, wie wir morgen überleben sollen”

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Diese zwei lassen sich nicht unterkriegen: Die Kölnerin Sabine und ihre Tochter Lena

von Martin Gätke (mg)

  • In der großen Video-Reportage zeigen wir, wie Alleinerziehende leben und fühlen.
  • Sabine (35, Name geändert) weiß nicht, ob sie und ihre Tochter in zwei Monaten genug zu essen haben.
  • Claudia (43) hat ihre Wohnung verloren und kämpft jeden Tag um ein Dach über dem Kopf.

Köln – Für ihre Kinder würden sie alles geben. Doch ihr Leben zu stemmen, das ist eine gewaltige Herausforderung. Auf alleinerziehenden Frauen lastet ein riesiger Druck und ständige Existenzangst. Sie sind dreimal häufiger von Armut bedroht als andere Familien mit Kindern. Im EXPRESS schildern zwei Mütter ihren harten Alltag, ihre Gefühle und Sorgen. In unserer Video-Reportage haben wir sie dabei begleitet.

Hier die große Video-Reportage ansehen:

Eigentlich dürfte es die kleine Lena (1) gar nicht geben. Der winzige Lockenkopf, den Sabine (35, Namen geändert) im Kinderwagen durch das verregnete Köln vor sich herschiebt, war nicht geplant. „Ich bekam vor Jahren schon die Diagnose: unfruchtbar“, erklärt die Kölnerin, während Lena schläft – einer der wenigen, ruhigen Momente in Sabines Alltag. Dabei habe sie sich immer ein Kind gewünscht, erklärt sie. „Doch dann habe ich einen Mann kennengelernt, wir kamen uns näher. Und eines Tages war ich plötzlich schwanger.“

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„Lass dein Kind wegmachen”

Eine Nachricht, die Sabine erst gar nicht glauben wollte. Doch die unerwartete Freude der jungen Schwangeren hielt nicht lang an. Ihr Freund sagte Sabine, sie solle doch zum Arzt gehen. Sich das Kind „wegmachen lassen“. Er könne jetzt auf keinen Fall Vater sein. „Dann hat er mich sitzen gelassen. Ich musste die Schwangerschaft alleine durchstehen.“ Nur die kleine Lena ist geblieben. „Seitdem kämpfe ich mich mit ihr durch den Alltag.“

Sabines Haushaltsrechnung

Einnahmen: Elterngeld während Elternzeit: 980 Euro Kindergeld: 194 Euro Unterhalt vom Vater: 260 Euro Gesamt: 1434 Euro

Ausgaben: Miete: 1100 Euro Strom/Internet: 100 Euro Lebensmittel: 300 Euro Windeln/Babymilch: 180 Euro Kindergarten: 200 Euro Gesamt: 1880 Euro

Fehlbetrag pro Monat: -446 Euro

Es ist ein harter Kampf, der Sabine jeden Tag aufs Neue Angst macht. Sie muss nicht nur Mutter und Vater zugleich für Lena sein, sie muss auch mit dem wenigen Geld haushalten, das ihr bleibt (siehe Haushaltsrechnung oben). Schon jetzt macht Sabine jeden Monat Miese, rund 400 Euro. „Ich habe Angst, weil ich nicht weiß, wie es weitergehen soll. Ich habe Angst, dass ich aus meiner Wohnung fliege. Hier habe ich vorher mit meinem Freund zu zweit gelebt, jetzt ist sie viel zu teuer für mich. Doch kein Vermieter in Köln will eine Alleinerziehende.“ 

Sabine sucht dringend nach einer neuen Wohnung

Nun sucht Sabine dringend nach einer neuen, kleineren und bezahlbaren Wohnung. Jeden Monat muss sie sich Geld leihen – für den teuren Kindergarten etwa. Sonst kommt sie nicht über die Runden.

Auch eine neue Arbeit wird schwierig. „Ich kann nur drei Stunden pro Tag arbeiten, weil die Kinderbetreuung nicht sichergestellt ist. Ich bete, dass mir ein neuer Arbeitgeber eine Chance gibt.“ Nur mit Hilfe von Freunden und Verwandten kann sie derzeit überleben. Doch wie lange? „Ich weiß noch nicht, wie wir uns in zwei Monaten ernähren sollen.“

Manchmal würde sie aufwachen, erklärt Sabine. Und einfach nicht wissen, wie sie und ihre Tochter am nächsten Tag überleben sollen.

Früher, vor Lena, hat Sabine im Schichtdienst gearbeitet, im Rettungswesen. 60 Stunden Arbeitszeit pro Woche waren für sie Alltag. Doch ihr Chef hat Probleme damit, dass Sabine alleinerziehend ist. „Weil ich eben nicht mehr die Leistung bringen konnte, die vereinbart war“, sagt die Mutter. „Kein Schichtdienst, kein Wochenenddienst, keine Rufbereitschaft. Ich habe einfach keinen, der auf meine Tochter aufpassen kann.“ Für einige Monate bekommt Sabine noch Elterngeld, doch damit ist bald Schluss. „Ich werde meinen Job auf jeden Fall verlieren.“

Bundesweit gibt es laut AWO rund 650.000 Alleinerziehende, allein im bevölkerungsreichsten Bundesland NRW sind es rund 360.000 Mütter und – in selteneren Fällen – Väter. 40 Prozent der Alleinerziehenden, das sind rund 144.000, leben von Hartz IV. Ihr Weg in die Armut ist ein kurzer. 

Claudia: „Die Vermieter winken sofort ab“

Blanke Zahlen, hinter denen bewegende Schicksale stecken. Arm und alleinerziehend - das ist auch Claudia Leicher (43). Ihre Tochter Jessi ist jetzt sechs. Die Kölnerin bezieht Hartz IV – und hat im vergangenen Oktober ihre Wohnung in Kalk verloren. Der Grund: überhöhte Heizkosten, die das Amt nur noch zum Teil zahlen wollte.

Claudias Haushaltsrechnung

Einnahmen: Kindergeld: 194 Euro Unterhaltsvorschuss: 205 Euro ALG-II-Regelsatz für Alleinerziehende: 410,26 Euro Gesamt: 809,26 Euro

Ausgaben: 2 Monatskarten für öffentlichen Nahverkehr: 70 Euro Lebensmittel: 300 Euro Prepaid-Handy: 50 Euro Essen für offene Ganztagsschule: 25 Euro Kleidung: 100 Euro Gesamt: 545 Euro

Übrig für Freizeit, Kultur, Haushalts- und Pflegeprodukte: 264,26 Euro

„Ich war damals naiv und dachte, ich schaffe das, trotz der Mietpreise in Köln eine neue Wohnung zu finden.“ Doch die Wohnungssuche wird zum Spießrutenlauf. Viele Vermieter winken sofort ab, wenn sie die zwei Worte hören: Hartz IV, alleinerziehend. Nun kommt sie seit Monaten bei Freunden unter, kämpft jeden Tag um ein Dach über dem Kopf. Und streift von Besichtigung zu Besichtigung.

„Einmal flüsterte mir eine Dame bei einer Massenbesichtigung ins Ohr: Wir bevorzugen aber schon Leute, die ein eigenes Einkommen haben. Andere bevorzugen nur Paare. Dann war das für mich beendet.“ Bei einer anderen Vermieterin hat Claudia schon im Vorfeld von ihrer Situation berichtet.

„Vermieterin spricht von oben herab”

Dann bekam sie einen Anruf von ihr: „Sie hat von oben herab gefragt, warum ich es denn als alleinerziehende Mutter nicht schaffe, mit meiner Tochter arbeiten zu gehen. Sie habe das doch früher auch geschafft. Dann habe ich nur gefragt: Hatten sie einen Partner? Ja, natürlich war ich verheiratet, hat sie geantwortet. Sehen Sie, da ist schon das Problem.“ Die Vermieterin hat sich nie wieder gemeldet.

Es gibt unzählige solcher Momente im Alltag von Claudia. Momente, die sie runterreißen, ihr die Hoffnung nehmen. „Man fühlt sich sowieso schon ganz klein, doch dann fühlt man sich noch schlechter. Ich fühle mich als Mensch dritter Klasse.“ Ein Zuhause, das sei doch das mindeste, das ein Mensch braucht. Das Kind braucht. „Ohne Wohnung ist man nichts. Man hat keinen Rückzugsort.“

„Ich möchte es anderen schön machen”

Wieder arbeiten können, das wäre ein großer Wunsch von Claudia. 2017 hat sie eine neue Ausbildung begonnen – zur Hauswirtschafterin mit Betreuungsassistent. „Ich mache einfach gern für andere sauber”, sagt sie. „Mir gibt das etwas, wenn ich sehe, ich habe es für den anderen schön hergerichtet.” 

Anschließend wollte sie in einer Schulcafeteria arbeiten, auf 450-Euro-Basis. Mit Brötchen schmieren, Rühreier machen, die ganze Verköstigung der Schüler eben. Doch dann erlebte sie dort, so wie Sabine, welche Probleme Chefs mit alleinerziehenden Müttern haben können. „Jeder war eigentlich mit meiner Arbeit zufrieden”, erklärt Claudia. „Aber ich wollte immer wissen, wann ich pünktlich gehen kann, um Wohnungen zu besichtigen. Der Chef kam nach zwei Tagen zu mir und sagte: Du bist alleinerziehend, du bist auf Wohnungssuche. Ich glaube nicht, dass du den Job schaffst.” Sie musste gehen.

Claudias Traumjob: eine Arbeit im Mutter-Kind-Heim

Nun sucht sie weiter. „Mein absoluter Traumjob wäre die Arbeit in einem Mutter-Kind-Heim. Wo junge Mädchen sind, die gerade ihr Kind bekommen haben. Ich würde ihnen sehr gern helfen, könnte jemandem noch etwas vermitteln. Ich bin eben Mutter mit Leib und Seele.”

Zwei alleinerziehende Mütter – sie kämpfen nicht nur um eine Wohnung, dafür, dass ihre Töchter ein erträgliches Leben haben. Sie kämpfen um Anerkennung in der Gesellschaft. Dafür, dass es sich nicht wie eine Bestrafung anfühlt, wenn man ein Kind liebt. Doch bei ihrem Kampf fühlen sich die Mütter allein gelassen – nicht nur von ihren Partnern. Sondern auch von Behörden.

Stadt Köln erklärt das Problem auf dem Wohnungsmarkt

Doch warum ist das so? Warum ist es für viele Alleinerziehende Glückssache, für sie bezahlbaren Wohnraum zu finden? Warum wird nicht mehr Wohnraum geschaffen? 66 Prozent der Alleinerziehenden beklagen das schlechte Wohnungsangebot in Köln. 

Nachfrage bei der Stadt. „Größtes Problem bei der Schaffung von neuem Wohnraum sind fehlende Bauflächen”, erklärt Baudezernent Markus Greitemann. „Und bei bestehenden Flächen besteht Abwägungsbedarf.” Auch Schulen und Kitas müssten gebaut werden. Zudem seien die Baukosten extrem gestiegen. Immerhin: „In Köln ist ein Flächenpotential von rund 50.000 Wohnungen identifiziert, jetzt gilt es nach wie vor diese schnellstmöglich nutzbar zu machen”, so Greitemann weiter.

Das sogenannte „kooperative Baulandmodell” soll Bauherren in Zukunft verpflichten, 30 Prozent der Wohnungen mit öffentlicher Förderung zu bauen, bei einem Bauprojekt mit mehr als 20 Wohneinheiten.

Die öffentliche Förderung sorgt je nach Einkommensgruppe für eine Mietobergrenze von höchstens 6,80 Euro bzw. 7,60 Euro pro Quadratmeter. Voraussetzung ist ein Wohnberechtigungsschein, auf den rund 500.000 Kölner Anspruch haben. 

Bei bereits bestehenden Immobilien sollen „soziale Erhaltungssatzungen” einen Beitrag leisten: Mit denen kann die Stadt Gebiete bezeichnen, in denen strengere Regeln für Modernisierungen gelten. So sollen unnötige Luxus-Modernisierungen verhindert werden. 

Am Ende wählen die Vermieter selbst aus

Die Stadt hat also neue Werkzeuge, um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Doch ehe sie wirklich greifen, vergehen noch Monate, vielleicht Jahre. Doch obwohl die Lage auf dem Kölner Wohnungsmarkt so angespannt ist, vor allem im öffentlich geförderten Wohnungsbau, werden derlei Sozial-Wohnungen nur durch die Eigentümer selbst vermietet. Sie wählen am Ende aus, wer von den berechtigten Bewerbern in die Wohnung darf. Den Wohnungssuchenden werde daher mitgeteilt, „dass kein Anspruch auf Wohnraumversorgung besteht und sie die Wohnungssuche in Köln grundsätzlich in Eigenregie gestalten müssen – auch dann, wenn diese sich schwierig gestaltet und über einen längeren Zeitraum zieht”, so die Stadt Köln.

Ein Ratschlag, der Alleinerziehenden wie Sabine und Claudia wenig helfen wird.