Interview mit Talentscoutin„NRW hat Potenzial im Sport für Menschen mit Behinderung“

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Talentscoutin Lina Neumair ist für den BRSNW auf der Suche nach Sporttalenten mit Behinderung.

Lina Neumair (25) aus Hattingen ist seit April 2019 als hauptberufliche Talentscoutin für den Behinderten- und Rehabilitationssportverband NRW (BRSNW) unterwegs. Damit ist sie in Deutschland die Erste und Einzige. Ihr Job ist ein Pilotprojekt bis Ende 2020 und wird zu 75 Prozent von der Sportstiftung NRW gefördert. Die Suche nach Talenten gestaltet sich allerdings schwierig. Im Gespräch erzählt sie von ihrer Arbeit und damit zusammenhängenden Herausforderungen sowie über den Wunsch nach mehr individueller Förderung im Nachwuchsbereich für Behindertensport im Leistungssport.

Anja Schindler: Frau Neumair, Sie sind landesweit die einzige Talentscoutin für Kinder und Jugendliche mit Behinderung. Wie kam es dazu?

Kontakt

Behinderten- und Rehabilitationssportverband Nordrhein-Westfahlen e. V. Talentscoutin Lina Neumair Telefon: 0203/7174170 Email: neumair@brsnw.de

Lina Neumair: Nach der Schule habe ich zunächst eine Ausbildung zur Sport- und Fitnesskauffrau absolviert und mich im Anschluss noch für ein Studium im Bereich Sport- und angewandte Trainingswissenschaften entschieden. Parallel zu meiner Ausbildung und dem Studium habe ich aber auch schon als Trainerin im Kinder- und Jugendsport gearbeitet. Insgesamt waren das sieben Jahre, in denen ich fast täglich in der Halle stand. Die Arbeit hat mir Spaß gemacht, keine Frage. Aber ich habe mich dann doch nach all den Jahren – nach einer neuen Herausforderung gesehnt. Dann habe ich von der freien Stelle beim Behinderten- und Rehabilitationssportverband NRW erfahren und mich beworben. Die Ausschreibung passte perfekt auf meine Studieninhalte.

In Ihrem jetzigen Job haben Sie mit Kindern und Jugendlichen mit Behinderung zu tun. Inwiefern haben Sie im Vorhinein Erfahrung in diesem Bereich sammeln können? Ich habe während meines Studiums ein sechsmonatiges Praktikum im Behindertensport beim TSV Bayer Leverkusen gemacht. Auch in meinem Familien- und Bekanntenkreis gibt es Menschen mit Behinderung, mit denen ich regelmäßig in Kontakt bin. So war der Bereich für mich im Prinzip nicht neu. Neu sind hier nur die Strukturen im Vergleich zu meinem Job als Kinder- und Jugendtrainerin.

Das heißt? Wie sieht denn ein typischer Arbeitstag von Lina Neumair aus? Einen typischen Alltag gibt es in diesem Sinne nicht. Jeden Tag wartet etwas Neues auf mich. Allerdings erledige ich meine Aufgaben nicht wie früher in der Turnhalle, sondern zu 90 Prozent im Büro. Von dort aus plane ich meine Trainingsbesuche und Aktionstage, erweitere mein Netzwerk und bin dadurch viel in E-Mail-Kontakt mit Förderschulen, Vereinen, Reha-Kliniken und Krankenhäusern. Ich verschicke Infomaterial und bin natürlich auch auf der Suche nach Talenten. Das ist besonders mit Blick auf die Paralympics 2020 in Tokyo interessant. Ich habe eine spannende Zeit vor mir.

Wie genau funktioniert die Talentsuche?

Westlotto unterstützt

Finanzielle Unterstützung erhält die Sportstiftung NRW sowie der Behinderten- und Rehabilitationssportverband Nordrhein-Westfahlen e. V. unter anderem aus Zweckerträgen der Lotterien von WestLotto. Was die wenigsten wissen: Von jedem Spieleinsatz werden im Land NRW durch das Lotto-Prinzip Institutionen aus Wohlfahrt, Denkmalschutz, Sport, Kunst und Kultur sowie Naturschutz in NRW gefördert. So ist jeder Spielschein ein Gewinn für alle. Beispielprojekte gibt es unter anderem auf der Internetseite www.westlotto.de.

Ich besuche mit Landestrainern Landesschulfeste von Förderschulen oder Landesmeisterschaften, an denen Kinder und Jugendliche mit Behinderung teilnehmen. Dort halten wir dann gemeinsam nach Talenten Ausschau. Doch das ist oft eine Suche wie nach einer Nadel im Heuhaufen. Denn Kinder mit Potenzial zu finden, ist schwer, doch es kann auch klappen. Beispielsweise habe ich im Mai mein erstes Talent nach Wattenscheid vermittelt. Aus einem Probetraining ist mittlerweile regelmäßiger Sport geworden. Der Junge trainiert nun gemeinsam mit anderen behinderten Kindern in einer Leichtathletik-Gruppe. Im September nahm er sogar schon an seinem dritten Wettkampf teil. Das macht mich stolz.

Ich hoffe, dass ich in Zukunft noch weitere Talente entdecken werde und unterbringen kann. Aus diesem Grund habe ich auch die Schnuppertage ins Leben gerufen. An diesen Aktionstagen arbeite ich immer mit einem Sportverein zusammen, der Behindertensport im Leistungssport anbietet. Dazu laden wir dann Kinder und Jugendliche ein, aber auch Quereinsteiger. Heißt: Menschen, die nach einem Unfall mit einem Handicap leben müssen. Bislang gab es drei Schnuppertage für die Sportarten Tischtennis, Rudern und Sitzvolleyball. Bis zum Jahresende sollen noch zwei weitere folgen.

Und wie ist die Resonanz? Leider schleppend. Besonders die Eltern der Kinder unterschätzen häufig die Möglichkeiten, die wir ihren Kindern geben möchten. Sie denken oftmals „Mein Kind kann das nicht“. Und genau diese Denkweise wollen wir aufbrechen. Wir wollen ihre Kinder unterstützen, ihnen Fördermöglichkeiten aufzeigen und den Familien beratend zur Seite stehen. Fakt ist ja auch, dass wir im Behindertensport nicht die Breite an Talenten haben, wie im normalen Sport. Hier ist es meistens nur eine Handvoll und einer kristallisiert sich dann heraus.

Meinen Sie, dass die Anzahl an Talenten in NRW gesteigert werden kann? Auf jeden Fall. NRW hat Potenzial im Behindertensport. Hier muss nur enger und besser zusammengearbeitet werden. Ich weiß noch, wie ich anfangs nach Ansprechpartnern von Sportvereinen gesucht habe. Das war sehr mühselig, weil es nur sehr wenige Rückmeldungen gab. Das mag vielleicht daran liegen, dass Vereinstrainer denken, wir wollen ihnen ihre Mitglieder wegnehmen. Doch wir wollen genau das Gegenteil. Wir wollen Menschen mit Behinderung andere Wege aufzeigen, sich im Sport weiterzuentwickeln und Zusatzangebote wahrzunehmen und zeigen, dass es uns gibt. Das Gleiche gilt auch für die Schnuppertage. Wenn wir Förderschulen anschreiben und einladen, kommt nur sehr selten etwas zurück. Bis Ende 2020 möchte ich die Schnuppertage dennoch ausbauen und hoffe damit auf einen Aufschwung für den Behindertensport im Leistungssport.