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Schnäuzereklat auf BühneWie Wallraff seinen Intimfeind enttarnte

Mehrere Männer stehen auf einer Podiumsbühne, die Person links hat der Person rechts einen falschen Schnäuzer von der Oberlippe gerissen.

Günter Wallraff hat seinem Intimfeind Heinz Klaus Mertes den falschen Schnäuzer von der Oberlippe gerissen und hält seine Beute hoch.

„Ganz unten“ brachte Günter Wallraff nach ganz oben: Ein Bestseller, ein deutsches Beben – 40 Jahre ist es her, dass das Buch über die Erlebnisse des Gastarbeiters Ali in die Regale kam und die Gesellschaft erschütterte.

So mies also gingen deutsche Bosse mit ausländischen Arbeitern um. Als Undercoverreporter entlarvte Wallraff Menschenhändler, Rassisten und Kapitalisten ohne Skrupel. Das saß.

Aber: Die Sache passte natürlich nicht allen. Zu den Begleiterscheinungen der bedrückenden Wallraff-Enthüllungen, für die der Kölner mit Perücke und dunklen Kontaktlinsen in die Rolle des Arbeiters „Ali“ geschlüpft war und sich den Härten und Zumutungen etwa in der Stahlindustrie ausgesetzt hatte, gehörte eine gepfefferte Medienrivalität. Denn in Bayern machte sich ein Mann mit heiligem Eifer daran, Wallraff, dem angeblichen „Scheinaufklärer“, ans Bein zu pinkeln.

Sein Name: Heinz Klaus Mertes, TV-Journalist beim „Report aus München“ und späterer Chefredakteur des Bayerischen Rundfunks. Zwischen Mertes und Wallraff sollte es zu einer denkwürdigen Begegnung kommen.

„Mertes war ein Wadenbeißer“ sagt Wallraff, als EXPRESS ihn in seinem Ehrenfelder Haus trifft. „Wallraff war doch ein kleiner Floh“, spielt Mertes aus heutiger Sicht die Angelegenheit am Telefon süffisant runter – schließlich habe er, Mertes, mit historischen Figuren wie Helmut Kohl und Michail Gorbatschow 1990 zusammen am Birkentisch in Moskau gesessen, an dem es um Russland und das Haus Europa gegangen sei – der Journalist fühlte sich umweht vom Mantel der Geschichte.

Vier Jahre zuvor aber war sich Mertes nicht zu schade, Günter Wallraff nachzustellen. Sein Bemühen, der aus Sicht des konservativen Lagers tendenziösen Berichterstattung Wallraffs und dem sensationellen Erfolg von „Ganz unten“ etwas Bedeutendes entgegenzustellen, mündete in ein 240-seitiges Wallraff-Gegenwerk mit dem Titel: „Ali. Phänomene um einen Bestseller“. Mertes prangerte wortreich Wallraffs Methoden an. Wallraff nennt das Buch ein „Pamphlet“.

Mehrere Bücher des Journalisten Günter Wallraff

„Ganz unten “ war der größte Bucherfolg von Günter Wallraff.

Zum Höhepunkt der Fehde kam es bei einer Podiumsveranstaltung der SPD zum Thema illegale Leiharbeit im Juni 1986 in Düsseldorf. Mertes hatte nun selbst auf Wallraff gemacht und sich getarnt – mit aufgeklebtem Schnäuzer, gefärbten Koteletten und fremder Brille hatte er sich unter das Publikum gemischt, in der Hoffnung, Wallraff werde „auf seinem Medienthron“ (so Mertes) gegen ihn austeilen und so seine „Intoleranz“ (so Mertes) zeigen. Doch Wallraff war im Bilde. Gegen eine Zahlung von 3000 Mark in bar hatte ihm ein Journalist die Information zu Mertes gesteckt.

Als sich der nichtsahnende Mertes am Ende mit „Ganz unten“ in der Hand auch noch zwischen die Autogrammjäger reihte und sich angekommen bei Wallraff mit dem (Falsch)-Namen Beierle vorstellte, kam es zum Eklat. Wallraff nutzte die Gunst der Sekunde und riss Mertes den Schnäuzer von der Oberlippe. Wallraff erzählt: „Zapp! Und dann habe ich den Schnäuzer geschwenkt wie einen Skalp.“ Für Wallraff eine Realsatire: „Ich wusste ja vorher nicht sicher: War der Schnäuzer angewachsen oder angeklebt? Wäre er angewachsen gewesen, hätte es ein Gerangel gegeben.“

Mertes habe gebrüllt, das sei ein Diebstahl, der Schnäuzer gehöre seiner Schwester. Wallraff hatte den Schnäuzer einem Kollegen weitergereicht – der gab das Teil Mertes zurück, was Wallraff bedauert. Schmunzelnd sagt er: „Ich hätte allzugerne einen Prozess geführt wegen des Diebstahls des Schnäuzers der Schwester des Herrn Mertes.“

Stasi-Gerüchte gegen Günter Wallraff

Der Kampf der Intimfeinde sollte einige Jahre später einen weiteren Höhepunkt erreichen. Als 1992 Stasi-Gerüchte gegen Wallraff aufkamen, melde Mertes in der ARD-Schaltkonferenz sein Interesse an, das Thema in den „Tagesthemen“ zu kommentieren. Er sei in dem Thema drin, habe er gesagt, erzählt Wallraff, der später von den genaueren Umständen erfahren hatte.

Der Kommentar geriet zu einer skandalösen wilden Abrechnung und ging in die TV-Geschichte ein – was Mertes damals von sich gab, habe die Rufmordkriterien erfüllt, sagt Wallraff. Der damalige WDR-Intendant Fritz Pleitgen habe sich hinterher bei ihm entschuldigt.