Die Zahlen sind ein Schock! An Grundschulen in Kölner Brennpunkten bleibt oft jedes dritte Kind in der ersten Klasse sitzen. Jetzt redet Schulleiterin Christiane Hartmann Klartext.
Alarm-AussagenKölner Schulleiterin: „Die Situation der Kitas ist katastrophal“

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Unser Symbolbild zeigt eine Schülerin, die sich meldet, während die Lehrerin vor der Klasse steht.
Nicht ausreichend Deutsch-Kenntnisse, nicht gut genug vorbereitet auf die Schule – und prompt bleiben bis zu einem Drittel der Kinder schon in der ersten Klasse sitzen. Doch es passiert nichts.
Christiane Hartmann leitet die James-Krüss-Grundschule im Ostheim, in der weit überwiegende Teil der Kinder Migrationshintergrund haben. Die Schule hat die höchste Sozialindex-Stufe 9. Ihre Schule nimmt am Startchancen-Programm teil.
Nun fordert sie: „Wir müssen den Fokus viel mehr auf die frühe Kindheit legen und viel mehr Ressourcen in Kita und Grundschule setzen.“ Die Lösung: eine Kita-Pflicht und ein echtes Startchancenprogramm für Kitas und Grundschulen.
Warum das so wichtig ist? Ein Drittel der Erstklässler und Erstklässlerinnen mit Migrationshintergrund in NRW war vor der Schule nie in einer Kita. Dort lernen sie aber, sich in einer Gruppe zurechtzufinden und Konflikte zu lösen. „Kindern, die nicht in der Kita sind und stattdessen zuhause stundenlang vor Medien platziert werden, fehlt das Selbst-Begreifen, das Welt-Wahrnehmen“, so Hartmann.
Klingt abstrakt? Ist es aber nicht. Hartmann wird deutlich: „Wenn ich als Kind in der Kita keine Förmchen gestapelt habe, kann ich später auch nicht drei und sieben addieren.“ Noch schlimmer: Viele Kinder wissen nicht, warum sie lesen lernen sollen, weil sie noch nie ein Buch gesehen haben! „Wir lesen hier im 1. Schuljahr einigen unserer Kinder das erste Mal in ihrem Leben Geschichten vor.“

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Christiane Hartmann leitet die James-Krüss-Grundschule im Ostheim.
„Die Situation der Kitas ist katastrophal“, sagt Hartmann. Notbetreuung, Personalmangel – darunter leiden vor allem die Kinder, die es am nötigsten bräuchten. In Kitas, in denen viele Kinder kein Deutsch können, bräuchte es eigentlich mehr Personal, nicht weniger.
Und in der Schule geht der Stress weiter. Die Arbeit sei erfüllend, aber „total anstrengend“. „Ich erlebe immer wieder, wie tolle Lehrerinnen und Lehrer auf dem Zahnfleisch gehen. Das System wird über die Ressourcengrenze getrieben.“
Eine typische Klasse bei Hartmann hat bis zu 27 Kinder. Fast alle haben Förderbedarf – sprachlich, motorisch, in der Konzentration. Eine Obergrenze für Kinder mit Förderbedarf? Gibt es nicht. In Hamburg schon.
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Ein riesiges Problem ist der Einfluss von Smartphones. Die Kinder können sich kaum konzentrieren, sind bei kleinsten Geräuschen abgelenkt. „Wir setzen ihnen Kopfhörer auf oder setzen sie vor eine weiße Wand – rechts und links von einer Regalwand abgeschottet“, beschreibt Hartmann die drastischen Maßnahmen.
Noch ein schlimmer Effekt: „Sehr viele Kinder sind nicht mehr neugierig auf die Welt, sie stellen keine Fragen.“ Sie werden von bunten Handy-Bildschirmen überreizt, aber erleben und „begreifen“ die echte Welt nicht mehr.
Dabei gäbe es Hilfe, wie das Familiengrundschulzentrum. Aber die Bürokratie ist ein Albtraum. Bis ein Kind mit Verhaltensstörung eine Schulbegleitung bekommt, kann es Jahre dauern. In besseren Vierteln wissen die Eltern, wie man Anträge stellt. „So dekliniert sich Bildungsungerechtigkeit durch alle Bereiche durch“, klagt Hartmann.
Was würde noch helfen? Längeres gemeinsames Lernen! Deutschland und Österreich sind die einzigen Länder in Europa, die Kinder schon nach der vierten Klasse trennen. „Bei uns sind die Kinder ja nicht dümmer. Sie brauchen nur mehr Unterstützung“, sagt die Schulleiterin.
Zwar gibt es mit dem Startchancen-Programm Geld vom Bund, aber NRW zwingt die klammen Kommunen, 30 Prozent selbst zu tragen. Hartmann fürchtet, dass das Geld an anderer Stelle wieder gekürzt wird. (red)