Weniger Fouls, mehr RückpässeTaktikexperte verrät: Geisterspiele verändern Fußball

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Torhüter haben bei Geisterspielen öfter den Ball.  Im Bild zu sehen sind die Kölner Toni Leistner (l.) und Timo Horn beim Geisterspiel gegen den FSV Mainz 05.

Köln – Der erste Geisterspieltag ist vorbei und dürfte bei vielen Fans und Akteuren für Freude gesorgt haben. Leere Tribünen sorgten dabei jedoch für ein ungewohntes Bild. Wie sich der Fußball mit den Geisterspielen verändert hat, erklärt Taktikexperte Tobias Escher (32).

Geisterspiele in der Bundesliga: Tobias Escher erklärt spielerische Unterschiede

Der Gründer des Taktikblogs „Spielverlagerung“ ist Autor mehrerer Fußball-Sachbücher und als Experte im Format „Bohndesliga“ bei RocketBeansTV zu sehen. Bei den neuen Spielumständen zur Coronazeit sind ihm einige wichtige Details aufgefallen.

Warum er Sorgenfalten wegen des Restarts hat, wie sich das Spiel verändert hat und wer von Spielen ohne Zuschauer profitiert, verrät Escher EXPRESS im Interview.

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Herr Escher, der erste Geisterspieltag ist beendet. Wie haben Sie die Spiele verfolgt?

Ich habe die Spiele am Fernseher verfolgt, die Partien konnte man gut schauen. Ich bin natürlich froh, dass es wieder Fußball zu sehen gibt, und es hat sich schnell ein normales Fußball-Feeling eingestellt.

Haben Sie sich auf den Restart gefreut und wie stehen Sie zur neuen Aufnahme des Spielbetriebs?

Einerseits habe ich dem Restart kritisch entgegengeschaut, weil ich noch nicht hundertprozentig davon überzeugt bin, dass das DFL-Konzept die Spieler wirklich gut schützt. Das wird sich mit der Zeit zeigen und ich bin froh, wenn ich eines Besseren belehrt werde. Anderseits freue ich mich persönlich natürlich über die Rückkehr des Fußballs. Ich habe wieder mehr Arbeit und am Wochenende gibt es dann auch endlich andere Themen als nur das Coronavirus. Diese Ablenkung tut gut.

Die leeren Kulissen wirken für Spieler wie für Zuschauer befremdlich. Haben Sie als Experte spielerische Unterschiede wahrgenommen?

Ja, ich habe schon einige Unterschiede ausgemacht. Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob man das ausschließlich auf das Publikum zurückführen kann. Die Teams sind weniger aggressiv vorgegangen. Es gab weniger Fouls und Schauspieleinlagen. Aus taktischer Sicht ist interessant, dass das Pressing weniger wurde. Es gab nicht viele Teams, die ihre Kontrahenten in der gegnerischen Hälfte energisch angelaufen sind. Das ist besonders bei Teams wie Gladbach, Schalke und Frankfurt, die sich sonst über ihr Pressing definieren, auffällig gewesen. Mir ist zudem aufgefallen, dass mehr Teams den Quer- oder Rückpass gewählt haben, statt nach vorne zu spielen. Insgesamt gab es mehr Pässe, die Torhüter hatten öfter den Ball. Da kann man schon einen ersten Schluss ziehen: Wenn das Publikum die Mannschaft nicht gerade nach vorne peitscht oder pfeift, wenn das Team den Ball zum Keeper zurückspielt, werden diese Varianten öfter gewählt – selbst wenn man zurückliegt.

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Spieler bekommen weniger Druck durch Pfiffe von den Tribünen. Ist das positiv, weil die Spieler befreiter aufspielen können oder negativ, weil das Spiel beispielsweise langsamer wird?

Das kommt auf den jeweiligen Spielertypen an. Es gab einige, denen es gutgetan hat, dass kein Publikum vor Ort ist. Besonders gemerkt hat man das bei Mahmoud Dahoud, der befreit aufgespielt hat. Aber es gibt auch Teams, denen das fehlende Publikum schadet. Eintracht Frankfurt wäre, mit den Fans im Rücken, gegen Gladbach sicherlich anders aufgetreten.

Gab es weniger Fouls, weil Spiele ohne Publikum nicht so hitzig waren?

Die Möglichkeit, dass eine Partie überkocht, ist durch das fehlende Publikum sicherlich vermindert. Wobei dieser Spieltag mit seiner Besonderheit auch noch verzerrt ist. Wenn sich Spieler und Klubs an die Umstände gewöhnt haben, wird sich einiges normalisieren.

Haben Sie durch den Wegfall von Nichtigkeiten, wie ausufernde Diskussionen mit dem Schiedsrichter, eine erhöhte Netto-Spielzeit wahrgenommen?

Subjektiv ja, allerdings habe ich dazu bislang keine Werte gesehen. Aber ich habe das Gefühl, dass der Ball länger im Spiel war, weil es weniger Unterbrechungen und kaum Verletzungspausen gab. Das kann man positiv wie negativ sehen. Fußball lebt natürlich auch von der Emotionalität und Spiele können unter den derzeitigen Umständen auch leiden. Das BVB-Schalke-Derby hätte bei einem 4:0-Spielstand mit Publikum sicherlich eine ganz andere Wucht gehabt.

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Die Vorgabe, nicht gemeinsam zu jubeln oder sich abzuklatschen, wurde nicht von allen eingehalten. Negativ aufgefallen sind an diesem Wochenende Hertha BSC und der VfL Osnabrück. Wie beurteilen Sie ihr Verhalten?

Ich kann schon nachvollziehen, warum Osnabrück, das sehr spät im Derby gegen Bielefeld den Ausgleichstreffer erzielte, im Kollektiv gejubelt hat. Dass man da nicht sofort an die Corona-Regeln denkt, finde ich menschlich. Andererseits haben sich viele Teams sehr gut an die Regeln gehalten, was seltsam wirkt, wenn einzelne Teams aus der Reihe tanzen. Wobei man erwähnen muss: Dieses Jubelverbot hat keinen Infektionsschutz-Hintergrund. Wenn Spieler bei einem Eckstoß alle dicht beieinanderstehen, um dann nach dem Tor Abstand halten zu müssen, geht es eher um einen Vorbildcharakter. Bilder, wie Hertha sie produziert hat, sind dabei absolut kontraproduktiv.

Jetzt haben wir einen Geisterspieltag miterlebt. Können Sie schon eine Prognose wagen, wie sich das Spiel unter diesen Umständen verändern wird?

Ich kann mir vorstellen, dass diese ruhige Spielart in den kommenden Wochen bleiben wird. Wir werden bestimmt mehr Quer- und Rückpässe sehen, als es vorher der Fall war. Allerdings könnte sich das Spiel zum Ende der Saison noch einmal wandeln. Wenn Teams mit dem Rücken zur Wand stehen, werden wir wieder mehr aggressiven Fußball sehen. Das sind Dinge, die man zuletzt nicht gut trainieren konnte. Das wird sich aber ändern. Deshalb glaube ich, dass wir zum Saisonende wieder ein Stück Normalität sehen werden.