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Bundesliga-Schiri Ittrich im GesprächEin FC-Spiel ließ ihn noch lange zweifeln

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Patrick Ittrich erklärt Ellyes Skhiri und Jonas Hector eine Entscheidung im Spiel bei Bayern München am 21. September 2019. Ittrich pfiff bislang 40 Spiele in der Bundesliga, fünf davon mit FC-Beteiligung.

von Anton Kostudis (kos)

Köln – Seit 2016 pfeift Patrick Ittrich (41) in der Bundesliga. Jetzt gewährt der Hamburger als erster aktiver Schiedsrichter einen Blick hinter die professionelle Fassade. In seinem Buch „Die richtige Entscheidung“ berichtet der Hamburger von den schönen und weniger schönen Momenten seiner bisherigen Karriere.

EXPRESS hat Ittrich in Köln getroffen und mit dem Unparteiischen über Geister-Spiele, die Diskussionen um den Video-Assistenten und die schwersten Stunden seiner Laufbahn gesprochen.

Herr Ittrich, warum sollten Fußball-Fans Ihr Buch lesen?

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Damit sie verstehen, wie ein Schiedsrichter handelt und denkt. Und vor allem: Warum es jemandem Spaß macht, Schiedsrichter zu sein. Die meisten Menschen, selbst Fußballer fragen mich immer wieder: Wie kannst du diesen Job machen? Wenn jetzt einer das Buch gelesen hat, soll er im besten Fall sagen: „Hey, ich kann nun absolut nachvollziehen, warum er Schiedsrichter ist. Und ich würde das auch gern machen.“ Es wäre super, wenn ich mit dem Buch Menschen für den Job begeistern könnte. Denn wir haben auch massive Nachwuchsprobleme.

Sie beschreiben die Momente nach dem Spiel Wolfsburg gegen Schalke im August 2018, Ihr bislang „schlimmstes Spiel als Schiedsrichter“, heißt es da. Sie gestehen offen Fehler ein. Sind Bundesliga-Schiedsrichter heute selbstkritisch genug?

Jeder sollte natürlich sagen dürfen, was er falsch gemacht hat. Aber jeder Schiedsrichter muss das für sich selbst entscheiden, da geht es nicht zuletzt um Selbstschutz. Und ja, das war ein furchtbares Spiel. Unter anderem habe ich mich in der Tasche vergriffen, Rot statt Gelb gezeigt. Aber egal, was du als Schiedsrichter machst, am Ende ist immer irgendeine Partei sauer auf dich. Und es wird erwartet, dass du dich nach einem Fehler entschuldigst. Ich bin Schiedsrichter aus Leidenschaft, und ich stehe dafür ein, dass ich unparteiisch bin. Wenn ich einen Fehler mache, dann mache ich den, weil ich vielleicht falsch stand, weil ich vielleicht fachlich nicht gut drauf war oder weil ich einfach einen schlechten Tag hatte. Aber nie mit Absicht. Wenn ich also mal einen Bock schieße, will ich mich nicht einfach entschuldigen, sondern vielmehr erklären, wie er zustande gekommen ist.

Bekommen Sie und Ihre Kollegen das mittlerweile gut hin?

Nun, natürlich hilft es ungemein, wenn wir unsere Schiedsrichterei transparenter gestalten und erklären, was wir da machen. Aber der große Fehler liegt meiner Meinung nach im System: Wann nämlich wollen die Leute eine Erklärung haben? Eben: Wenn was falsch gelaufen ist. Es kommt ja keiner zu dir und sagt nach dem Spiel: „Hey, der Vorteil, den Sie da gegeben haben vor dem 1:0, das war ja Weltklasse, Herr Ittrich!“ Nein, wenn du eine super Spielleitung abgeliefert hast, dann marschierst du durch die Katakomben – und keiner will was von dir. Dann lobst du dich höchstens selbst. Und du bleibst ja auch nicht stehen und fragst: „Aber heute wollt ihr nichts von mir wissen?“ Klar werden wir daran gemessen, was wir falsch machen. Und das wissen wir auch. Das Leben in der Fußballwelt ist so schnelllebig: Da erzählst du die Lebensgeschichte zu deinem Fehler und zwei Tage später wird die nächste Sau durchs Dorf getrieben.

Im November 2011 waren Sie als Assistent von Babak Rafati für das Spiel zwischen Köln und Mainz vorgesehen. Sie fanden Rafati nach seinem Selbstmordversuch im Hotelzimmer. Wie schwer war es, darüber zu schreiben?

Ungemein schwer. Schlichtweg, weil es da um ein Menschenleben ging. Und natürlich auch um die Psyche aller Beteiligten. Deswegen war es mir sehr wichtig, darüber zu schreiben. Wobei mein Augenmerk letztendlich auf der Sportpsychologie lag. Das Thema wird teilweise kritisch gesehen und natürlich muss am Ende jeder für sich selbst entscheiden, was für ihn das Beste ist. Mir persönlich hat die Sportpsychologie in jeglicher Form geholfen. Was damals in diesem Hotelzimmer passiert ist, war schockierend. Aber alle Beteiligten müssen geschützt werden. Ich werde also nichts verbreiten, was nicht in die Öffentlichkeit gehört. Zu erklären, wie ich mich dabei gefühlt habe, das kann ich allerdings tun – ohne dabei über andere zu sprechen oder sie zu verletzen.

Hat sich nach dem Vorfall im allgemeinen Umgang mit den Schiedsrichtern etwas geändert?

Da bin ich mir nicht sicher. Es ist ein Phänomen: Du schlägst die Zeitung auf, und dann siehst du zum Beispiel, dass irgendwo auf der Welt 20 Kinder gestorben sind. Und was machst du? Du blätterst zur nächsten Seite, irgendwann kommt der Sportteil, dem du dich dann vielleicht intensiver widmest, weil es um deinen Lieblingsklub geht. Meiner Meinung nach ist uns ein Stück weit das Gefühl für die wichtigen Dinge verloren gegangen. Je weiter weg etwas passiert, desto unbeteiligter sind wir. Wenn du aber persönlich von etwas betroffen bist, dann bleibst du meist lange darin gefangen. Diese Situationen mit Babak, oder auch mit Robert Enke, waren fürchterlich. Wie jede Situation, in denen Menschen Not und Verzweiflung erleiden. Ich würde mir grundsätzlich wünschen, dass wir uns mehr besinnen. Wir tun das aktuell nur sehr kurz, nämlich dann, wenn etwas passiert ist. Und das finde ich schade.

Da durch die Corona-Pandemie auch der Veröffentlichungstermin des Buches verschoben wurde, haben Sie noch eine Passage über die Geister-Spiele in der Bundesliga ergänzt. Hand aufs Herz: Ist ein Spiel in einem leeren Stadion nicht einfacher zu pfeifen als vor vollem Haus?

Nein, ganz klar nein. Es ist anders, aber nicht einfacher. Die Eindrücke verschieben sich ein wenig. Mit der Kulisse hast du einen ganz anderen Flow. Alles wirkt anders, die Spieler benehmen sich anders. Ein Beispiel: Wenn ein Spieler gefoult wird, rollt er sich vor 80.000 Zuschauer vielleicht ein-, zweimal mehr. Bei einem Geisterspiel macht er vielleicht weniger Theater. Du als Schiedsrichter musst aber den Fokus behalten. Anderes Beispiel: Plötzlich hörst du viel mehr, eigentlich fast alles, was auf und neben dem Platz gesprochen wird. Aber davon darfst du dich in deiner Spielleitung nicht beeinflussen lassen. Es war in der Anfangsphase wirklich schwierig, sich darauf einzustellen.

Also wünschen Sie sich die Fans zurück ins Stadion, auch wenn es dann gern einmal hitzig werden kann?

Absolut! Ohne Zuschauer fehlt die Power von außen – und auch das Feedback. Mit Fans herrscht Energie im Stadion, positive Energie. Sie sorgen für Ekstase, für Stimmung. Das spürst du schon, wenn du einläufst, das gibt dir Spannung, das gibt dir den Spaß und den Kick. Und die Atmosphäre hilft dir auch, diese Spannung aufrechtzuerhalten. Ohne Fans ist das eine echte Herausforderung. Manche Leute stellen sich das ja so vor: Der Schiri fährt irgendwo zu einem Spiel, pfeift dreimal links, dreimal rechts – und fährt dann wieder nach Hause. Aber so ist es nicht. Letztens war ich bei der Partie Bremen gegen Frankfurt eingesetzt, was ein umkämpftes Spiel war. Da musst du als Schiri schauen, dass du konzentriert und immer auf der Höhe bist. Aber natürlich gibt es auch unter den Geisterspielbedingungen einfachere Spiele.

Außerdem brechen Sie in Ihrem Buch eine Lanze für den Video-Assistenten, sagen: „Ich möchte nicht bis an mein Lebensende von einer Jahrhundert-Fehlentscheidung verfolgt werden“. Wann glauben Sie, wird der VAR endgültig Normalität?

Das wird irgendwann passieren, wann genau, weiß ich nicht. Aber der Video-Assistent ist nicht wegzudenken. Das wird auch von vielen Beteiligten der ersten und zweiten Liga so gesehen: Er gehört dazu und ist wichtig. Und das ist er auch, um die Gerechtigkeit im Fußball zu unterstützen. Es wird natürlich nie eine hundertprozentige Gerechtigkeit geben – auch nicht mit dem VAR, da letztlich immer Menschen am Werk sind. Und Menschen machen Fehler. Das Problem ist, dass es sich derzeit gefühlt potenziert: Da wird ein Fehler gemacht, und weil es dann noch ein VAR-Fehler ist, wird noch dreimal draufgehauen. Weil viele sich fragen: „Wie kann der das nicht sehen?“ Aber du bist als Video-Assistent unglaublich unter Strom, weil du ganz genau weißt: Alle gucken auf dich und alle wissen, dass du da 17 Kameras hast. Gleichzeitig musst du eine relativ zügige Entscheidung treffen. Vielen dauert es ja jetzt schon viel zu lange. Es gibt vermeidbare und unvermeidbare Fehler. Und natürlich müssen wir über die vermeidbaren Fehler sprechen und uns fachlich mit ihnen auseinandersetzen. Das machen wir auch. Es ist ja nicht so, dass wir alle unbeteiligt nach Hause gehen – mir persönlich geht es auch nah, wenn mir als Video-Assistent ein Fehler unterlaufen ist.

Warum fällt es den Fußball-Fans so schwer, das zu akzeptieren?

Fußball ist schnell und emotional. Und wir als Schiedsrichter müssen immer versuchen, im Sinne des Spiels zu handeln. Aber da gibt es in der öffentlichen Wahrnehmung schon einen Unterschied zu den Spielern, auch wenn ich mich mit ihnen nicht unbedingt vergleichen will. Ich mache es ausnahmsweise doch mal... Wenn ein Stürmer in einem Spiel dreimal frei vor dem Tor steht und den Ball nicht reinmacht, dann steht die Bank auf, da wird applaudiert, da heißt es: „Auf geht’s, der nächste!“ Und dann haut er in der 90. Minute das Ding zum Siegtreffer ins Netz und ist ein gefeierter Mann. Als Schiedsrichter wiederum lieferst du 90 Minuten lang eine tadellose Leistung, wirst nicht gesehen, nicht gehört, und alle sind einverstanden mit dir. Und in der 91. Minute gibst du einen Strafstoß, der strittig ist, bei dem der Video-Assistent aber nicht eingreift, weil es keine klare Fehlentscheidung ist. Und dann bist du plötzlich der Buhmann der Nation. Das ist halt unser Los. Ich finde dennoch, dass der Video-Assistent eine gute Sache ist, weil die richtig großen Fehlentscheidungen künftig nicht mehr passieren werden. Ich kenne den Fußball auch von früher, ich bin auch ein kleiner Fußball-Romantiker. Und wenn da einer einen Seitfallzieher ins Kreuzeck haut, aber er steht drei Millimeter im Abseits, dann ist das schade. Das sehe ich als Fußballer genauso. Aber es ist nun mal so, und vor allem ist es für alle gleich.

Wie oft erinnern Sie sich an Ihre „schlimmen“ Spiele?

Ich bin ein positiver Mensch: Ich lache gerne, ich habe gern Spaß, und ich erzähl auch gern mal bisschen Quatsch. Ich erinnere mich nur an schlechte Sachen, wenn ich muss. Viel lieber denke ich an positive Ereignisse. Das gilt für gepfiffene Spiele wie auch andere Dinge im Leben.

Den Fans des 1. FC Köln sind Sie auch wegen einer kuriosen Entscheidung beim 0:5 im September 2017 in Erinnerung. Vor dem zwischenzeitlichen 2:0 für den BVB pfiffen sie Foul an Timo Horn, gaben den Treffer von Sokratis dann nach VAR aber doch. Hängt Ihnen dieser Vorfall noch nach?

Vielleicht in den Medien, aber nicht bei mir. Ich hatte vor allem fachliche Zweifel. Ich habe mich gefragt: Wieso habe ich nicht einfach gewartet? Mittlerweile sieht man ja, wie lange Assistenten warten. Und wie lange der Schiedsrichter wartet, damit genau so etwas nicht passiert: Dass du zu früh pfeifst und die Situation dann quasi „tot“ ist. Das war damals die Anfangsphase mit dem Video-Assistenten, wir mussten uns umgewöhnen. Es ist halt so: Schiedsrichter sind Entscheider. Sie sehen etwas und entscheiden – und pfeifen. Heute ist es so: Du siehst was, und du denkst, dass du eigentlich jetzt pfeifen müsstest. Aus deiner Sicht ist es eigentlich ein Foul, du wartest jetzt aber, weil eine unmittelbare Torerzielung folgen könnte. Es ist ja möglich, dass das, was du gesehen hast, falsch war. Es hat ein bisschen gedauert, aber meiner Meinung nach funktioniert das heute. Das war damals eines der Spiele, bei dem das nicht so gut funktioniert hat.

Die Seele des Fußballs sehen Sie aber nicht in Gefahr?

Nein. Es gibt auch heute im Fußball immer wieder Situationen, die du vorher noch nicht erlebt hast, ob als Schiedsrichter oder als Spieler. Dann passiert irgendwas, bei dem du denkst: Wie geht das denn? Und das macht den Fußball so interessant. Aber natürlich gibt es einige, die alles bis zum letzten Detail regulieren möchten: Handspiel, Abseits, und so weiter. Ich habe viele Freunde aus anderen Sportarten, bei denen fast alles reguliert ist. Vielleicht gehen die Leute zum Fußball, weil er von Emotionalität und Ermessensspielraum geprägt ist. Die Aufgabe des Schiedsrichters ist es, diesen Ermessensspielraum zu nutzen, aber immer zum Wohle des Spiels. Und das muss ihm gelassen werden. Alles durchzuregulieren wäre aus meiner Sicht falsch.

Haben Sie ein heimliches Lieblingsstadion in der Bundesliga?

Ich habe einen Liebling, den werde ich nicht verheimlichen: Das ist ganz klar meine Frau. (lacht). Als Schiedsrichter wiederum bin ich durch und durch unparteiisch. Dafür stehe ich ein. Ob Köln, Gladbach, Leverkusen oder woanders – ich bin dankbar für jedes Spiel, egal in welchem Stadion.

Mit dem Sportjournalisten Mats Nickelsen haben Sie sich Hilfe beim Schreiben geholt. Wieso?

Weil ich mir niemals anmaßen würde, selbst ein Buch schreiben zu können. Wir haben uns sehr häufig getroffen, wobei ich geredet habe und Mats alles aufgezeichnet hat. Am Ende hatten wir mehr als 42 Stunden Audio-Material. Ich kenne Mats schon sehr lange. Er hat mich damals als Reporter vor meinem ersten Bundesliga-Spiel interviewt und ist sehr schiedsrichteraffin. So musste ich ihm nicht alles grundlegend erklären, das war super.