Das historische 0:6-Debakel und die FolgenDie Ära Löw muss nun beendet werden

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Joachim Löw beobachtete das Treiben seiner Spieler in Sevilla mit Entsetzen. Neben ihm Co-Trainer Marcus Sorg.

Sevilla – Die höchste Niederlage der Nationalmannschaft seit über 89 Jahren wühlt Deutschland auf. 7,34 Millionen TV-Zuschauer sahen das 0:6-Debakel in Spanien und fragten sich nach Abpfiff: War es das für Joachim Löw? Ein Kommentar zu den Folgen des Untergangs in Sevilla.

Wenn die Verantwortlichen beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) nicht weiterhin beide Augen vor der Realität verschließen wollen, können sie nur zu einer Erkenntnis kommen: Das 189. Länderspiel in der Ära von Joachim Löw (60) muss auch sein letztes gewesen sein. Die „Leistung“ der Nationalmannschaft in Sevilla war Arbeitsverweigerung und Hilferuf zugleich. Wie das komplette Team teilnahmslos die Packung über sich ergehen ließ, kann nicht als Ausrutscher beiseite gewischt werden. Hier hilft nur ein kompletter Neuanfang.

Als sich die Stars des FC Bayern vor gut einem Jahr in Frankfurt mit 1:5 abschlachten ließen, spürten die Münchner Bosse, dass die Spieler ihrem Trainer Niko Kovac (49) die Gefolgschaft verweigert hatten. Es kam zur vollkommen richtigen Trennung. Unter Hansi Flick (55) setzte die gleiche Mannschaft, die bei der Eintracht in ihre Einzelteile zerfallen war, zum Siegeszug an.

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Warum sollten Boateng, Hummels und Müller für Löw durchs Feuer gehen?

Nun die Bankrotterklärung von Sevilla im DFB-Trikot. Der erste Ruf vieler Experten nach der Rückkehr der aussortierten Weltmeister mag richtig sein. Allerdings sollten alle bedenken, dass auch der FC Bayern Jerome Boateng (32) nach dieser Saison wegschickt, sich im Vorjahr von Mats Hummels (31) trennte. So unverzichtbar scheinen die Routiniers also nicht zu sein. Außerdem darf stark bezweifelt werden, dass die im März 2019 von Löw äußerst taktlos gestrichenen Spieler nun genau für diesen Trainer bei der EM durchs Feuer gehen würden.

Joachim Löw hat dem deutschen Fußball gut getan. Von 2006 bis 2016 erreichte er bei jedem Turnier mindestens das Halbfinale. Der 60-Jährige hat neuen Schwung in die Länderspiele gebracht mit einer berauschenden WM 2010 und einem vom Titel gekrönten Turnier 2014. Doch seit dem WM-Fiasko von Russland 2018 fehlt ihm das richtige Händchen. Der unglücklich kommunizierte Umbruch, die seltsam anmutenden Nominierungen und die stereotyp wirkenden Aussagen haben sein Denkmal zunächst ins Wanken und nun zum Sturz gebracht.

Joachim Löws Fehler: Falsche Personal-Politik, Taktik-Wirrwarr, keine Entwicklung

Dass Spieler wie Toni Kroos (30) oder Julian Draxler (27) unantastbar bleiben, während für Thomas Müller (31) die Tür geschlossen bleibt, ist nicht nachvollziehbar. Dass Dauerreservisten wie Antonio Rüdiger (27) oder Jonathan Tah (24) in Länderspielen Spielpraxis sammeln dürfen, ist nicht hinnehmbar. Dass Spieler nicht auf ihrer Ideal-Position eingesetzt werden (Matthias Ginter als Rechtsverteidiger in der Viererkette, Timo Werner als Linksaußen), ist verwunderlich. Dass keine funktionierende Taktik (mal 3:4:3, mal 4:2:3:1, mal 4:3:3) gefunden wird, ist erschreckend. Dass die Körpersprache aller Spieler in Spanien signalisierte, dass sie sich aufgegeben haben, ist ein Armutszeugnis.

Bleibt nur die bange Frage, wie der innerlich heillos zerstrittene DFB die Problematik lösen will. Derzeit ist niemandem im Verband zuzutrauen, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Und die Alternative liegt auch nicht auf dem Präsentierteller bereit. Der FC Bayern wird nach den Kovac-Erlebnissen Hansi Flick (55) an der Säbener Straße anketten und niemals ziehen lassen. Jürgen Klopp (53) ist mit seiner Liverpool-Mission noch nicht am Ende. Und ob Ralf Rangnick (62) oder Thomas Tuchel (47) Deutschland aus dem Stimmungstief befreien können, darf auch bezweifelt werden.

Auch Oliver Bierhoff kann nicht mehr wie gewohnt weitermachen

Sicherlich muss im Zusammenhang mit dem Thema Löw auch die Rolle von Oliver Bierhoff (52) hinterfragt werden. Der DFB-Direktor hat durch seine Entscheidungen in Fragen der Kommerzialisierung des Teams zur Entfremdung der Fans von der Nationalmannschaft gesorgt. Bei einem unbelasteten Neuanfang dürfte der Europameister nicht mehr weiter bei der DFB-Auswahl in der ersten Reihe stehen.

Nachfolgelösung mit Stefan Kuntz bietet sich vorerst an

Vielleicht bleibt vorerst nur die interne Lösung. Stefan Kuntz (58) führte 2017 die U21 zum EM-Titel. Der frühere Bundesliga-Torschützenkönig kommt bei Spielern und Öffentlichkeit gut an. Er könnte für den dringend benötigten frischen Wind auf der deutschen Bank sorgen. Mit „Zeit, dass sich was dreht“, komponierte Herbert Grönemeyer den Soundtrack zum Sommermärchen 2006. Die Botschaft gilt nun erneut: „Högschde Zeit, dass sich was dreht“.