Facebook & Co.Internet-Guru mit klarer Ansage: „Löscht eure Social-Media-Accounts“

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Jaron Lanier hält während der IT-Messe Cebit 2018 einen Vortrag.

New York – Wir leben in Zeiten regelmäßig wiederkehrender Datenskandale und wissen, dass Facebook und Co. uns nicht uneigennützig eine Plattform zum Austausch mit unseren Freunden zur Verfügung stellen. Und trotzdem kehren wir den sozialen Netzwerken nicht den Rücken, sind sie aus unserem alltäglichen Leben nicht mehr wegzudenken. Oder doch? 

Für Jaron Lanier, Silicon-Valley-Insider und Internet-Pionier der ersten Stunde, gibt es nur eine, ganz einfache, Lösung: alle Social-Media-Accounts löschen. Sofort. Lanier hat Begriffe wie Virtual Reality oder Avatar geprägt und an amerikanischen Universitäten wie Yale oder Columbia Informatik gelehrt. Heute arbeitet er als Entwickler bei Microsoft.

Er ist aber auch bekannt als ein deutlicher Mahner für mehr Humanismus in Zeiten der totalen Digitalisierung unseres Lebens und wurde 2014 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. In der Begründung heißt es, Lanier habe die Risiken, die die Digitalisierung für die freie Lebensgestaltung des Menschen berge, erkannt. Sein Buch sei ein Appell, „wachsam gegenüber Unfreiheit, Missbrauch und Überwachung zu sein“.

Alles zum Thema Social Media

Ein Thema, dass ihn auch in seiner neuen Streitschrift beschäftigt, sie trägt den unmissverständlichen Titel: „Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst“ (Hoffmann und Campe, Mai 2018). Wir haben uns das Buch angesehen und stellen seine eindrücklichsten Argumente vor. 

Soziale Medien machen uns zu Süchtigen

Wer in den sozialen Medien aktiv ist, wird danach süchtig. Ihr Ziel ist es, bei ihren Nutzern so viel Interaktion wie möglich zu erzeugen. Dafür werden sowohl positive, als auch negative Reize eingesetzt. Lanier nennt das Belohnung und Bestrafung des Nutzers. Wer auf ein veröffentlichtes Bild viele positive Reaktionen und Komplimente bekommt, wird sich angewöhnen, mehr solcher Bilder zu posten.

Ein großer Teil dieser Reize entstehen aus sozialem Druck, auf den Menschen von Natur aus besonders sensibel reagieren. Der eigene Status, Anerkennung von anderen und daraus resultierende Konkurrenz sind besonders entscheidende Aspekte. „In den sozialen Medien ist die Manipulation sozialer Gefühle die einfachste Methode, um Bestrafungen und Belohnungen herbeizuführen“. Es wird das konstante Gefühl sozialer Versagensangst erzeugt, das den Nutzer an die sozialen Medien bindet.

Soziale Medien manipulieren uns

Soziale Netzwerke wie Facebook oder Instagram sind Wirtschaftsunternehmen. Ihr Geschäftsmodell basiert darauf, unsere Vorlieben und Abneigungen genau auszuwerten. Das geschieht mit Hilfe des Algorithmus, der beobachtet und analysiert was uns gefällt, wie lange wir auf einem Video verweilen, welche Anzeige wir anklicken.

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Danach werden automatisiert Beiträge ausgewählt, von denen zum Beispiel Facebook glaubt, dass der Nutzer am wahrscheinlichsten mit ihnen interagiert. Die genaue Funktionsweise wird zwar geheim gehalten, doch einiges ist bekannt.

Diese Informationen machen sich vor allem Werbetreibende zu Nutzen, die Geschäftskunden sozialer Netzwerke. Aufgrund der gesammelten Erkenntnisse über jeden Nutzer, finden sie den perfekten Moment, um im Newsfeed eine Anzeige zu schalten. Nämlich dann, wenn wir am empfänglichsten dafür sind. Jaron Lanier spricht bei diesen Werbetreibenden deshalb von Manipulatoren, weil sie ihren Gewinn darüber erwirtschaften, das Verhalten von Menschen zu verändern. 

Soziale Medien machen aggressiv und traurig

Zahlreiche Studien zeigen, dass in unserer vernetzten Welt das Gefühl der Vereinsamung immer mehr zunimmt. Für die Kunden des Technologiekonzerns sind das keine schlechten Nachrichten, denn negative Emotionen sind leichter herbeizuführen und halten außerdem länger an. Sie sorgen also für mehr Interaktion bei den Nutzern, folglich auch für mehr Profit für die Kunden der Social-Media-Unternehmen. Wir werden also nicht trauriger oder aggressiver, weil die Welt da draußen so schlimm ist, sondern weil es gut fürs Geschäft ist.

Soziale Medien untergraben die Wahrheit

Für viele ist Facebook eine oder sogar die einzige Nachrichtenquelle geworden. Ein gefährlicher Trend, denn die Wahrheit hat es schwer in den sozialen Medien. Die Gründe dafür sind zahlreich. Doch der entscheidendste Punkt ist, dass die Wahrheit nicht unbedingt einträglich für das Geschäftsmodell ist. Lanier erklärt das so: „[Es ist] ein Geschäftsmodell, das darin besteht, bestimmte Leute mit meist bösen Absichten heimlich das Verhalten von anderen Menschen manipulieren zu lassen. Wirtschaftliche Anreize sind meist wirkungsvoller als Regeln, Richtlinien und gute Absichten.“

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Ein weiterer entscheidender Aspekt sind Fake-Profile, also Profile in sozialen Medien, hinter denen keine echte Person steckt. Im großen Stil können Unternehmen diese Profile kaufen. Zum Beispiel, um positive Bewertungen ihrer Produkte ansteigen zu lassen. Sie können aber auch erheblichen Schaden anrichten, erklärt Jaron Lanier: „Soziale Medien können dazu eingesetzt werden, eine gesellschaftliche Stimmung zu erzeugen, die das einst Undenkbare denkbar macht. So nehmen zum Beispiel die verrücktesten Verschwörungstheorien in den sozialen Medien ihren Anfang und werden von Fake-Profilen befeuert, um dann in extrem tendenziösen konventionellen Medien aufzutauchen.“

Soziale Medien spalten die Gesellschaft

Löschen wir nicht unsere Social-Media-Accounts, laufen wir Gefahr, unsere Empathie zu verlieren, argumentiert Lanier. Wenn Algorithmen darüber bestimmen, was jeder Nutzer in seinem Feed sieht, bedeutet das im Umkehrschluss, dass wir nicht wissen, was andere sehen. „Die Inhalte werden für dich ausgesucht und die Anzeigen auf dich zugeschnitten, und du weißt nie, wie viel davon für dich geändert worden ist oder warum“, so Lanier.

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Die Algorithmen führen Menschen mit gleichen Meinungen in sogenannten Filterblasen zusammen, weil es effektiver und wirtschaftlicher ist. Das bedeutet, dass einem Nutzer fast ausschließlich das gezeigt wird, was seine Meinung bestätigt. Das hat zur Folge, dass wir die Welt nur noch mit Scheuklappen sehen. „Die Version der Welt, die du zu sehen bekommst, ist unsichtbar für Menschen, die dich nicht verstehen, und umgekehrt“, erklärt er.

Soziale Medien schwächen die Demokratie

Soziale Medien sind „Propagandawerkzeuge irrsinniger gesellschaftlicher Gewalt“, sagt Lanier. Und nennt als Beispiel das Schicksal der Rohingya. Die Krise der verfolgten muslimischen Minderheit in Myanmar falle zeitlich mit der Ankunft von Facebook vor Ort zusammen, das fast sofort mit diffamierenden Posts über die Rohingya überschwemmt wurde. Die größte Interaktion unter den Nutzern erobern sich die paranoiden und hetzerischen Beiträge. Und beeinflussen so wieder andere Nutzer.

Die Lösung

Jaron Lanier möchte mit seinem Buch nicht erreichen, dass wir uns vom Internet abwenden. Das Internet selbst sei nicht das Problem. Es sollen lediglich genug Menschen aus den sozialen Netzwerken aussteigen, damit deren Entwickler einen Grund haben, sich mit den Problemen auseinanderzusetzen und Lösungen zu finden. „Ich fordere keine Opposition, ich bitte um Hilfe“, schreibt Lanier in seinem Fazit. 

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Ein Ausstieg aus den sozialen Medien bedeutet nicht seine Freunde aufgeben zu müssen. Lanier empfiehlt, einfach per E-Mail in Kontakt zu bleiben. Auch auf Nachrichten muss nicht verzichtet werden. Wir sollten, so Lanier, einzelne Nachrichtenseiten direkt aufrufen und vielleicht mit einer Browser-Erweiterung die Kommentare blockieren.

„Zehn Gründe, warum du deine Social-Media-Accounts sofort löschen musst“ ist ein Buch, das dem Leser die Augen für das Verborgene öffnet. Und genügend Argumente sammelt, seine eigene Mitgliedschaft in sozialen Netzwerken zumindest zu überdenken. 

Buch-Tipp: „Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst“, Hoffmann und Campe, Mai 2018.