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„Wenn wir das nicht schaffen”Physikerin mit düsterem Corona-Szenario bei „Anne Will”

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Viola Priesemann, Physikerin am Max-Planck-Institut, erläutert bei „Anne Will” (ARD) verschiedene Corona-Modelle.

Köln – Deutschland geht in den (Teil-)Lockdown und das mindestens für vier Wochen. Strenge Kontaktbeschränkungen, geschlossene Restaurants und Freizeiteinrichtungen: Die Kritik daran reißt nicht ab. Doch vor allem aus der Wissenschaft und der Medizin kommen Argumente dafür.

„Vier harte Wochen – wie nachhaltig wirken die Anti-Corona-Maßnahmen?“ fragte auch Anne Will am Sonntagabend in der ARD (21.45 Uhr).

Über die neuen Anti-Corona-Maßnahmen diskutierten ihre Gäste:

  • Bayerns Ministerpräsident
  • der Chef des Bundeskanzleramts,
  • Bundesjustizministerin a.D.,
  • Jazz-Musiker
  • Stefan Willich
  • und

Sind die Maßnahmen tatsächlich alternativlos? Stefan Willich bemängelte: Sie seien wissenschaftlich gar nicht belastbar. Dabei würden nationale Lockdowns gravierende Schäden hervorrufen, so der Direktor: „Im psychiatrischen Bereich, aber auch aufgrund verschobener Operationen und Eingriffe bis hin zur Frage Existenzbedrohung, Armut und daraus resultierende gesundheitliche Schäden.“

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Anne Will: Zeitpunkt für Lockdown ist genau richtig

Ist der Lockdown gerechtfertigt? „Ich denke, der Zeitpunkt ist genau richtig“, ergänzte Willich. „Die Zahlen sind jetzt nach oben gegangen und – was noch wichtiger ist – die Intensivmedizin befindet sich an der Grenze ihrer Kapazitäten.“

Dennoch seien die Maßnahmen in zwei Punkten kritikwürdig: „Erstens müssen sie regional adjustiert sein“, erklärte Willich weiter. „Das, was für Berlin gilt, gilt für Mecklenburg-Vorpommern nicht.“

Stefan Willich bei Anne Will: „Maßnahmen dürfen nicht alle Bereiche undifferenziert abdecken“

Der zweite Punkt: „Sie dürfen nicht alle Bereiche undifferenziert abdecken.“ Willich nannte die Kultur als Beispiel: „Die Intendanten der Theater und Konzerthäuser haben akribisch gute und wirkungsvolle Hygienekonzepte entwickelt. In den Veranstaltungen sitzt man sowieso schweigend und mit Abstand. Da sind meiner Kenntnis nach keine relevanten Infektionsherde bekannt geworden.“

Trotzdem werden Kultureinrichtungen geschlossen. „Das halte ich für nicht sinnvoll in der Wirkung. Ganz im Gegenteil: Das schädigt viele, die dort tätig sind.

Ein weiteres Beispiel: Es sei gut, dass Schulen offenbleiben. „Aber den Teamsport unter freiem Himmel zu verbieten, halte ich nicht für gerechtfertigt.“

Markus Söder bei Anne Will: Man kann keinen Ort als „Hotspot” ausschließen

Auch Moderatorin Anne Will attestierte den Maßnahmen, etwas „wackelig“ zu sein und fragte den bayrischen Ministerpräsidenten, wie willkürlich diese denn sind. Söder verteidigte sie jedoch mit dem Hinweis darauf, dass man ja bei 75 Prozent der Infektionen – laut RKI – nicht wisse, woher sie kommen und daher bislang keinen Ort als „Hotspot“ wirklich ausschließen könne. „Man weiß es schlicht nicht.“

„Geeignet, erforderlich und verhältnismäßig“, so beschrieb Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) die neuerlichen Eindämmungsmaßnahmen.

Anne Will: Sabine Leutheusser-Schnarrenberger will bessere juristische Grundlage

Über 240 Gerichtsurteile hätten bestätigt, dass die Maßnahmen tatsächlich „geeignet“ sind, so die Bundesjustizministerin a.D., Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP). Dabei seien viele einzelne Ausgestaltungen wie Beherbergungsverbote „nicht erforderlich“ gewesen – auch das hätten Gerichte entschieden. Da sei die Verhältnismäßigkeit nicht gegeben. Da sei es wichtig, die Entscheidungen auf juristische „breite Füße“ zu stellen.

Das Spezialgebiet der Physikerin am Max-Planck-Institut, Viola Priesemann, ist es, die Ausbreitung von Viren zu berechnen. Anne Will möchte von der Expertin eine Prognose: Bringen die derzeitigen Maßnahmen etwas? Wie wird es in vier Wochen aussehen?

Physikerin bei Anne Will: Maßnahmen wirken wie ein „Reset”

Es komme ganz darauf an, so die Wissenschaftlerin. „Die Ausbreitung des Virus ist ganz klar vom Verhalten der Menschen getrieben“, erklärte sie. Je nachdem wie sich die Menschen verhalten, „werden wir an der einen oder an der anderen Stelle stehen.“

Der neue Maßnahmenkatalog sei wie ein „Reset“ zu verstehen. „Nach dem Motto: Die Situation ist außer Kontrolle geraten. Lass uns noch einmal von vorne anfangen“, erläuterte Priesemann. Während die Situation im Sommer unter Kontrolle war und die Testungen sowie Nachverfolgungen schneller liefen als sich das Virus verbreitet hatte, sei der Zustand nun ein anderer. „Wir haben eine unkontrollierte Ausbreitung.“

Physikerin malt düsteres Szenario bei Anne Will: Sterblichkeitsrate verfünffacht sich

Was ist passiert? „Mitte September sind in einem Landkreis nach dem anderen die Fallzahlen gestiegen. Die Gesundheitsämter könnten immer schwerer die Kontakte nachverfolgen, „und dann gibt es Träger des Virus, die gar nicht wissen, dass sie Träger sind“, so die Physikerin.

Diese Personen würden viel mehr zur Ausbreitung des Virus beitragen – sie könnten in Altenheime oder zu anderen Risikopatienten gehen und diese infizieren. „Da springt die Krankheit von den Jungen zu den Älteren über.“

Derzeit liege die Sterblichkeitsrate zwar bei etwa 0,2 bis 0,3 Prozent. „Wenn aber die Krankheit sich gleichmäßig in allen Bevölkerungsgruppen ausbreiten würden, wären wir eher bei 1,5 Prozent Sterblichkeit“, betont Priesemann. „Und das macht einen großen Unterschied.“ Das ist dann fünf Mal so hoch.

Physikerin bei Anne Will: „Irgendwann ist die Kontrolle nicht mehr möglich“

Wenn man sich aber zu viel Zeit lässt, „ist irgendwann die Kontrolle nicht mehr möglich.“ Irgendwann seien die Krankenhäuser und die Gesundheitsämter überlastet, es gebe nicht mehr genug Corona-Tests „und es gibt mehr und mehr Träger, die gar nicht wissen, dass sie Träger sind und die heizen die Ausbreitung an.“

Ist aber die Reaktion der Politik auf die Infektionswelle deutlich genug? „Das steht auf der Kippe“, erklärte Priesemann. Es komme eben ganz auf die Umsetzung an. Die umfangreichen Maßnahmen aber seien dringend notwendig, um das Infektionsgeschehen einzudämmen. Nach den Erfahrungen im Frühjahr sei es wichtig, den derzeitigen R-Wert von etwa 1,5 auf 0,7 zu senken, damit die Fallzahlen sinken.

Physikerin bei Anne Will: „20.000 Neuinfektionen pro Tag keine langfristige Lösung”

„Das bedeutet: Zu den Einschränkungen, die wir seit Monaten in Kauf nehmen, müssen wir jetzt noch mehr Einschränkungen machen. Einfach nur, weil die Situation in manchen Landkreisen außer Kontrolle geraten ist. „Und das kostet.“

Um auf die 0,7 zu kommen, brauche man jeden Baustein. „Wenn wir nicht auf die 0,7 kommen, sondern auf – sagen wir – auf einen R-Wert von 1, dann stabilisieren wir die Neuinfektionen auf vielleicht 20.000 pro Tag. Aber das ist keine langfristige Lösung.“ Sie hoffe, dass die Chance jetzt genutzt wird.

Am Ende der Sendung meinte Professor Stefan Willich dann, die Corona-Statistiken müssten anders betrachtet werden. Eine hohe Zahl von Neuinfektionen sei per se gar nicht gefährlich, so seine Meinung. Er forderte, unter anderem mehr auf die Intensivkapazitäten zu schauen.

Physikerin bei Anne Will: „Wenn wir das nicht schaffen, haben wir ganzen Dezember über Lockdown”

Priesemanns widersprach dem vehement: „Da möchte ich massiv widersprechen“, ging sie dazwischen. Die Wissenschaftlerin erklärte, dass exponentiell steigende Zahlen selbstverständlich relevant seien. Das sei die Meinung vieler deutscher Wissenschaftler.

„In dem Moment, wo wir die Kontrolle verlieren, wird der Anstieg dieser Fallzahlen selbstverstärkend. Nicht nur die Fallzahlen gehen auch, auch der R-Wert geht hoch. Und um das wieder einzufangen, brauche ich so viel Mühe – das steht in keinem Verhältnis.“

Wären vor zwei Wochen strenge Maßnahmen ergriffen worden, hätten vielleicht nur zwei Wochen Lockdown gereicht. Nun seien es vier Wochen Lockdown. „Wenn wir das nicht schaffen, wenn wir die Chance in den nächsten zwei Wochen nicht nutzen und das Wachstum abschwächen, sodass die Fallzahlen wenigstens gleich bleiben, um dann zu sinken, dann haben wir noch den ganzen Dezember über einen Lockdown.“ Der Zustand bleibe instabil. (mg)